12. Juni 2024
Das Spital der Zukunft muss nicht nur finanziell liquid sein
Ein patientenorientiertes, kostengünstiges, innovatives Gesundheitswesen wünschen wir uns alle. Jedoch stehen viele Schweizer Spitäler laut dem ZHAW Digital Health Report 2023/24 vor verschiedensten Herausforderungen. So müssen laut der Umfrage (Abbildung 1) die Patienten und Patientinnen mehr in den Mittelpunkt gerückt werden. 59% der Betroffenen wollen eine bessere Übersicht über die Behandlung und den eigenen Gesundheitszustand. 55% wünschen sich eine schnelle Verfügbarkeit der Gesundheitsdaten in Notfällen und 44% eine beschleunigte Behandlung. Auf der anderen Seite wollen die Mitarbeitenden befähigt und entlastet, besser entlohnt und wertgeschätzt werden. Zu guter Letzt muss die Spitalleitung konkrete Antworten auf den Fachkräftemangel, die Qualitätsprobleme, die fehlende Transparenz, den dauernden Kostendruck und die Erwartung bezgl. Spitzenmedizin und Innovation liefern.
Ein wichtiger Beitrag zur Lösung dieser Herausforderungen liegt in einer konsequenten Digitalisierung in Richtung eines «Smart Hospital». Dafür benötigt so eine intelligente Organisation des Spitals vier wichtige Schlüsselkompetenzen, die digital miteinander agieren müssen:
- Ansätze zur Verbesserung des Patienten- und Mitarbeitererlebnisses
- Hervorragende klinische und medizinische Ergebnisse
- Effizienz in der gesamten Versorgungs- und Wertschöpfungskette des Spitals
- Die hierfür notwendige finanzielle und transformative Reife der Organisation
In der heutigen Zeit muss jedoch der Wirkungskreis weit über den Spitalcampus hinausgedacht werden. Nicht nur neue Technologien wecken bezüglich Mobilität und Flexibilität zusätzliche Erwartungen in der Gesellschaft, sondern auch bei den Leistungsträgern erhofft man sich mehr Effektivität. Auf diese Erwartungen muss eingegangen werden und daraus kann die Vision des omnipräsenten «Liquid Hospitals» entstehen. Unter den Slogan «anywhere, anytime» und in allen Lebenslagen sollten die Hospitalisationszeiten verkürzt und die Behandlungsqualität gesteigert werden, ohne dabei die Betroffenen aus den Augen zu verlieren. Dies bedeutet, dass eine personalisierte und innovative Gesundheitsversorgung durch technologiebasierte Ansätze in die tatsächlichen Lebens- und Gesundheitssituationen der Patienten und Patientinnen integriert wird. Dies wird mittels Technologien wie medizinische Sensoren und Wearables, Mixed und Virtual Reality, Robotik und Künstliche Intelligenz erreicht. Dadurch verschwimmen die Grenzen des Spitals, und die Betroffenen können virtuell und an jedem Ort mit dem Spital verbunden sein, während die Daten sicher und ungehindert zum Wohl der Patienten fliessen und ihren Bedürfnissen gerecht werden. Eine solche Vision erfordert jedoch ein hohes Mass an Vertrauen in die Sicherheit und die Kontrolle der eingesetzten IT-Systeme und -Lösungen.
Das Innosuisse Flagship Projekt SHIFT
Das Innosuisse Flagship Projekt SHIFT hat sich das Ziel gesetzt, mit einer Blaupause für das «smart und liquid» Hospital der Zukunft hier einen massgeblichen Beitrag zu liefen. In diesem mit CHF 5,7 Mio. dotierten und 3,5 Jahren dauernden Multi-Projekt arbeiten fünf Forschungs- (ZHAW, USB, UNIBAS, UZH, FHNW) und 24 Praxispartner, sowie eine Vielzahl von Spitälern unter der Leitung des ZHAW Digital Health Labs zusammen. In drei grossen Themensäulen sind zehn Projekte zusammengefasst. Diese Themensäulen bündeln Konzepte und Anwendungen bezgl. nahtlosem Patientenpfad, der Befähigung des Spital-Personals und der betriebswirtschaftlichen Optimierung der Managementprozesse.
Eine essenzielle Basiskomponente stellt das Teilprojekt A.1 Tech-Foundation dar. Dieses stellt als einheitliche Daten- und Integrationsebene für Spitaler einen wichtigen technischen Enabler dar, welcher die «smart & liquid Tech- & Data»-Vision in die Realität umsetzt. Der Anspruch ist die durchgehende Verfügbarkeit, Sicherheit und Interoperabilität von allen Daten im Spital kostengünstig zu gewährleisten. Somit unterstützt das Subprojekt A.1 den nahtlosen Datenaustausch zwischen den im Gesamtprojekt eingesetzten Sensoren, Wearables, IoT-Geräten und Anwendungen mit den bestehenden Backend-Systemen der Spitäler.
Data- und Process Integration on demand: Integrationsplattform für das Spital
Über eine technische Middleware Lösung hinaus gehend, liegt die Besonderheit der Tech-Foundation in der Kombination von mehreren Zielsetzungen, welche dadurch nutzbar gemacht werden (Abbildung 2).
Viele technische Projekte scheitern an den Rahmenbedingungen und den Hürden der Compliance der Organisation bzw. der Behörden. Um dem entgegenzuwirken, wird besonders auf eine holistische Sicht des Lösungsansatzes Wert gelegt. Unter der Führung des Instituts für Wirtschaftsinformatik der ZHAW werden die folgenden sechs wichtigen Ziele im A.1 Projekt realisiert (Abbildung 2):
- Das technische Lösungspaket: Im Kern bietet die Tech-Foundation ein integriertes Produkt, welches Sensoren und Wearables (IoMT) mittels dem DeviceHub sowie den Datenaustausch mittels health-engine , als Integrationsmiddleware und Prozessengine, ermöglicht.
- Das Serviceangebot iPaaS: Als «Integration Plattform as a Service» kann die Lösung sicher, rechtskonform und kosteneffizient in zertifizierten Schweizer öffentlichen und hybriden Cloud-Umgebungen betrieben und als Service genutzt werden.
- Offenheit und Gesundheitsdaten-Interoperabilität: Für den syntaktischen und semantischen Datenaustausch werden führende Datenstandards wie HL7 v2, CDA, FHIR und Datenrepräsentationen wie OpenEHR sowie Profilierung mittels IHE verwendet.
- Medizinische und weitere Regulatorien und Compliance: Gesundheitsvorschriften, Regulatorien wie die Medizin Produkte Verordnung (MepV) sowie Vorgaben des Datenschutzgesetzes werden ebenso berücksichtigt.
- Digital Health Best Practice und Guidelines: Aus den zuvor angeführten Anforderungen werden konkrete Leitfäden zur Einführung und Integration von Digital Health Anwendungen angeboten.
- Reale Anwendungsfälle aus dem Spital: Schlussendlich werden die Ergebnisse auch an konkreten Teilprojekten des SHIFT Projektes in den Spitälern validiert und demonstriert.
Durch diesen multi-dimensionalen Ansatz ist gewährleistet, dass sowohl die technischen Aspekte der Implementierungspartner Leitwert.ch, the i-engineers (tie.ch) und Eviden.com berücksichtigt werden, als auch die wesentlichen Bausteine einer flexiblen, offenen und on demand nutzbaren iPaaS Gesamtlösung zur Verfügung stehen.
Die Zukunft des Spitalswesens muss «smart & liquid» sein
Der Handlungsbedarf im Gesundheitswesen ist noch gross, wenn es um die digitale Transformation zur intelligenten Organisation geht. Die wertvollsten und schützenswertesten Aspekte – die Gesundheit und die Daten der Patienten und Patientinnen – benötigen neue Betrachtungsweisen, wenn die Patienten Journey wirklich umfassend und zufriedenstellend verbessert werden soll. Dazu existieren aber noch verschiedenste Hürden und Tücken, die überwunden werden müssen. Zum Beispiel bestehen umfassende Vorgaben zur Nutzung von Gesundheitsdaten in der Public Cloud, welche weiter betrachtet werden müssen. Der Weg in die Cloud ist wohl unausweichlich, jedoch gibt es diverse technische, organisatorische, regulatorische und praktische Aspekte, welche analysiert und berücksichtigt werden müssen. Wie so oft entscheidet nicht die Technik allein den erfolgreichen Einsatz neuer Lösungen. Darüber hinaus drängen sich durch den vermehrten Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) im medizinischen Bereich kritische Fragen bezüglich der Transparenz und Ergebnissicherheit der verwendeten Algorithmen auf. Regulatorien wie die Europäische Medizinprodukteverordnung (MDR) schreiben ein klare Nachvollziehbarkeit der medizinischen Lösung vor, welche vorhersagbar und kontrollierbar sein muss. Jedoch lassen sich aktuell viele Machine Learning Algorithmen noch gar nicht klar externalisieren und werden als undurchschaubare Black Box gesehen. Zudem kommt der neue EU AI Act (AIA) ins Spiel, welcher Gesundheitsanwendungen per Definition als Risikogruppen klassifiziert und damit erhöhte Sorgfaltspflichten einfordert. Eine Harmonisierung von MDR und AIA und klarere Empfehlungen bezgl. rechtskonformer Anwendung werden hier wohl notwendig werden.
Die digitale Transformation in Spitälern ist durch die zuvor genannten Punkte kostspielig, komplex und ungewiss. Nur durch den Einsatz eines systemischen Ansatzes kann der Fortschritt und die Erfolgschancen der notwendigen Veränderung in Richtung des «smart & liquid Hospitals» erhöht werden. Das SHIFT Gesamtprojekt entwickelt ein mögliches Vorgehensmodell und Pilotanwendungen, um dies zu erreichen. Diese Blaupause zeigt auf, wie sich das Spital der Zukunft in eine qualitativ hochwertige, effiziente und intelligente Organisation der nächsten Generation weiterentwickeln kann. Als ein wichtiger Leistungserbringer ermöglicht das Spital der Zukunft den Patienten und Patientinnen eine ortsunabhängige und personalisierte Gesundheitsversorgung, die auf einem nahtlosen Datenfluss und sinnvollem Technologieeinsatz basiert. Damit leistet das SHIFT Projekt einen klaren Beitrag für ein exzellentes und finanzierbares Gesundheitswesen in der Schweiz. Schlussendlich bleibt das Spital nicht nur finanziell liquide, sondern ist auch «liquide» im Sinne einer ortsunabhängigen Betreuung der Betroffenen und der flexiblen Erfüllung ihrer Bedürfnisse.
Zum Autor
Christian Russ ist Mitglied der swissICT Fachgruppe E-Health sowie Mitglied des Vorstandes ZHAW Digital Health Lab.