Nach der Achterbahnfahrt der Sensationsmeldungen und Clickbaits, die in den letzten Wochen über die Rolle der KI bei der Ersetzung von Arbeitsplätzen kursierten, verspürte ich den Drang, mir die harten Fakten anzusehen. Ich habe mir die neue MIT-Studie «Beyond AI Exposure: Which Tasks are Cost-Effective to Automate with Computer Vision?» angesehen. Diese Studie deckt sich mit meinem Verständnis des Zusammenspiels zwischen KI, Unter- nehmen und der Wirtschaft. Der fundierte und pragmatische Ansatz ist besonders aufschlussreich, und ich möchte einige wichtige Erkenntnisse und Überlegungen mit Ihnen teilen.

Das Melodrama, welches oft mit dem «Diebstahl von Arbeitsplätzen» durch KI verbunden wird, sei beiseitegelassen. Die Studie stellt ein Modell für die Automatisierung von KI-Aufgaben vor, das die technischen Fähigkeiten der KI, aber auch ihre wirtschaftliche Sensibilität zeigt. Das Modell befasst sich mit der entscheidenden Frage: Ist die Automatisierung einer Aufgabe durch KI technisch machbar und ist sie wirtschaftlich sinnvoll?

Ein Blick auf die Studienzahlen zeigt eine Realität, die weit von der oft gemalten Untergangsstimmung entfernt ist. Bei 36% der Arbeitsplätze ausserhalb des US-amerikanischen Landwirtschaftssektors gibt es Aufgaben, die theoretisch den Fähigkeiten der KI unterworfen werden könnten. Von diesen Aufgaben sind aber nur 8% für die Wirtschaft attraktiv genug, um sie zu automatisieren. Die Studie macht deutlich, dass die Automatisierung durch KI erst ab einer bestimmten Grössenordnung wirtschaftlich sinnvoll ist. Da, wo KI und Automatisierung am wirtschaftlichsten sind, können sie die menschliche Arbeit unterstützen.

Ein weiterer Aspekt, dem ich definitiv zustimme, ist die Beschreibung der schritt- weisen, aber bedeutenden Entwicklung von KI auf dem Arbeitsmarkt. Dieses Tempo ist eine grosse Chance – ein Raum, den wir für Politik und Umschulungen brauchen, damit wir aufholen und sogar die Führung übernehmen können. Die Beschleunigungsmöglichkeiten, wie etwa AI-as-a-Service-Plattformen, sind vielversprechend, müssen aber mit den wirtschaftlichen Realitäten in Einklang gebracht werden.

Die MIT-Studie hat mich daran erinnert, dass wir in der Schweiz das KI-Terrain mit einer Mischung aus Enthusiasmus für die Innovation und einem soliden Verständnis für die wirtschaftliche Machbarkeit betreten sollten. Während wir das transformative Potenzial der KI nutzen, müssen wir sicherstellen, dass unsere Strategien nicht nur auf die technologischen Möglichkeiten, sondern auch auf die wirtschaftlichen und menschlichen Realitäten unserer Unternehmen abgestimmt sind.

Wo steht die Schweiz in Bezug auf KI?

Ich sehe ein paar relevante KI-Bemühungen, aber keine Bewegung im Schweizer Markt. Wir lassen uns bewegen, anstatt aktiv etwas zu bewegen. Jahrelang haben CEOs, Unter- nehmen und Verwaltungen das Thema KI verschlafen. Jetzt stehen alle auf der Bühne und erzählen uns von KI, ersten Erfolgen, Lernkurven und dergleichen. Die ersten Gewinner sind wieder einmal die grossen Tech-Unternehmen aus den USA. KI ist nicht einfach ein neues Kleid, das man sich schnell überzieht, und alles ist schön und gut. KI gibt uns tatsächlich die Chance, etwas Grundlegendes in der Gesamtwirtschaft zu verändern. Das ist kein einfach herbeigeführter Erfolg, sondern muss von CEOs, Mitarbeitenden und schliesslich von der gesamten Bevölkerung zuerst ein- mal in der Tiefe verstanden werden.

Wenn ich mir die Anhäufung von Ab- sagen für den «Solar-Express», die unsägliche Diskussion um 5G, die Ablehnung der E-ID und das anhaltende Scheitern des Patientendossiers in der Schweiz anschaue, kommt bei mir das Gefühl auf, dass wir Schweizer in einer warmen, gemütlichen Skihütte sitzen. Ungemütlich wird es erst, wenn keiner mehr einheizt. Wir haben uns eine «Alles ist sicher, der Wohlstand ist immer da»-Mentalität angeeignet und leiden zeitweise unter zunehmendem Realitätsverlust. Ich nehme wahr, wie Regionen in Europa und darüber hinaus aggressiver, zielgerichteter und leidenschaftlicher mit neuen Technologien, insbesondere mit KI, umgehen. Aktuell geben wir uns mit dieser Rollenverteilung zufrieden: Die USA gehen voran, die Chinesen passen sich schnell an, die Europäer regulieren, so viel sie können, und die offizielle Schweiz schaut zu.

Mit Zuschauen und der Mentalität vergangener Generationen können wir die Zukunft für unsere nächsten Generationen nicht gestalten. Um Technologieführer zu werden, müssen wir uns auf die neuen Technologien einlassen, die nächsten Generationen einbeziehen und massiv in neue Technologien investieren – sowohl in der Forschung als auch in den Unter- nehmen. Und übrigens, wir haben bereits ALLE Zutaten für eine Technologieführerschaft in der Schweiz: ETH, EPFL, globale Unternehmen, die Visionen, das Talent, die Sicherheit und die finanziellen Mittel.

Wo sind die KI-Visionäre?

Doch wo sind die Köche, die Visionäre, die Verrückten, die, die können und nicht nur wollen? Ich habe eine spannende Personengruppe gefunden, die ich als «schlafend» bezeichne. Wir haben in der Schweiz 316’500 Einzelfirmen mit nur einem Mitarbeitenden. Diese Einzelfirmen machen landesweit 51% aller Firmen aus. Rund 10% davon haben eine Mailadresse lautend auf «vorname.nachname-consultant@gmail.com». Dabei handelt es sich um ehemalige C-Levels, die die Rendite ihrer 20- bis 30-jährigen Karriere anzapfen könnten. Ich wünschte mir, dass die einstigen Führungskräfte bereit wären, sich in KI-Start-ups zu engagieren, sich die Hände schmutzig zu machen und ihr Wissen auch operativ in die KI-Zukunft der Schweiz einzubringen. Stellen Sie sich vor, wie erfolgreich die Schweizer Wirtschaft sein könnte, wenn diese 30’000 C-Levels aktiv an der Gestaltung von KI-Start-ups und KI-KMU mitwirken würden …

Mein Wunsch: mehr unternehmerisches Denken und Handeln

Ich wünsche mir mehr echtes unternehmerisches Denken und Handeln in der Schweiz. KI wird für Schweizer Unternehmen zu einem wichtigen Instrument, und Unternehmer:innen sollten nicht mehr nur über die Einführung von KI nachdenken, sondern sie auch einsetzen. Für mich verhält es sich mit der Entwicklung von KI wie beim Wachstum von Seerosen: Der Tag, an dem der Teich halb mit Seerosen übersät ist, ist nur einen Tag davon entfernt, dass er komplett mit Seerosen bedeckt ist. Bei KI wird die letzte Phase der Entwicklung blitzschnell verlaufen. Sind wir darauf vorbereitet?

Andy Fitze

Andy Fitze gehört zu den digitalen Gestaltern der Schweiz. Zusammen mit Dalith Steiger gründete er das preisgekrönte Start-up SwissCognitive und die Stiftung CognitiveValley. Er ist Serienunternehmer und hat gerade wieder ein neues Start-up gegründet. Seit 2014 ist er Präsident des Swiss IT Leadership Forum und seit 2016 Mitglied des Vorstands von swissICT.

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