28. September 2020

Agilität und Architektur – ein Widerspruch?

Eine moderne Organisationsform oder Architektur an sich führt nicht automatisch zum Erfolg. Nur wer es schafft, die richtige Balance zwischen Stabilität und Flexibilität zu finden, kann mit den passenden kreativen Leistungen und der so wichtigen Fähigkeit zur Improvisation rechnen.

von Boris K.A. Reinhard, Redminds GmbH

Aufgrund meiner Aufträge komme ich viel herum. Obwohl mein Herz momentan mehr für die Organisationsentwicklung & Disruptionen schlägt, blicke ich auf eine lange Zeit als Business & Enterprise Architect zurück. Im Folgenden lege ich einige Gedankengänge zur Rolle von Architektinnen und Architekten dar, dieses in einer Zeit, in der die Gesetze der bisherigen Welt nicht mehr gelten. Ich möchte den Anstoss geben, Architektur neu zu denken.

Alle reden vom Wandel. Unternehmen & Organisationen neu denken, das heisst auch, die Architektur neu denken. Und wir reden hier nicht (nur) von Technologie, sondern dem Unternehmen als Ganzes, angefangen beim Leitbild, über Businessprozesse, Geschäftsfähigkeiten, bis hin zur digitalen Kompetenz eines Unternehmens.

Entscheidungen, die das System «Unternehmen» in signifikanter Weise beeinflussen, prägen die Architektur des Unternehmens. Die Entscheidungsfindung kann anhand eines strukturierten Designprozesses passieren oder auf Entscheidungshilfen wie beispielsweise Prinzipien basieren.

Das muss aber nicht so sein. Wir alle kennen beispielsweise Situationen in Managementmeetings, in denen rasch mal eine Entscheidung «einfach so» getroffen wird, die das Unternehmen wie seine Architektur auf Jahre oder Jahrzehnte beeinflussen kann, z.B. den Kauf eines Konkurrenten.

Aber was hat sich denn nun geändert?

Früher konnte sich ein Unternehmen durch Standardisierungen und Automatisierungen differenzieren. Die Welt und deren Problemstellungen waren beschreibbar. Die Kunden mussten sich nach den Anbietern richten und das Angebot annehmen respektive die Produkte kaufen, die ein Unternehmen auf den Markt gebracht hat.

Heute braucht es neue Lösungsansätze. Die Automatisierung steht meistens nicht (mehr) im Vordergrund. Probleme sind im Voraus oftmals wenig beschreibbar. Und Kunden können das Angebot frei auswählen. Das nächste Angebot und das nächste Produkt sind nicht weit.

Folgerichtig brauchen wir eine neue Art wie wir Unternehmen denken. Und daher müssen wir auch die Architektur von Unternehmen neu denken.

Hierzu möchte ich exemplarisch drei Thesen in den Raum stellen:

  • Eine lange durchdachtes und perfekt konzipiertes Unternehmensarchitekturmanagement kann heute in Unternehmen keine Rolle mehr spielen. Die Zeit läuft. Wir brauchen heute leichtgewichtige, bewegliche Ansätze.
  • Es ist falsch, Architektur-Frameworks und -Methoden einfach zu übernehmen. Jeder Unternehmenskontext ist anders. Ein Konstrukt wie TOGAF © (The Open Group Architecture Framework, siehe https://opengroup.org) ist und bleibt ein Framework, was man zum Leben erwecken muss. Was im Kontext passt, muss man individuell anschauen.
  • Weder Jobtitel noch die Einführung neuer Meetings führen zu irgendeiner Form von Agilität. Denn das allein hat mit «Agilität» noch nichts zu tun. Das gilt auch für das Architekturmanagement.

Was können wir nun ändern?

Im Leben gibt es Dinge, die wir nicht ändern können wie den Verlauf von Tag und Nacht oder den der Gezeiten. Was wir aber eindeutig ändern können, ist, wie wir uns verhalten, dieses in Bezug auf Unternehmen und deren Architektur.

Und ich behaupte, dass eine «agil geprägte» Architektur bei der Haltung des Architekten anfängt. Und hier bin ich nicht allein, wenn ich Craig Larman sinngemäss zitiere:

«Agile Architektur entwickelt sich aus dem Verhalten agilen Architekturmanagements. Es geht primär um Denkweise und Handlungen und nicht um die Verwendung eines bestimmten Entwurfsmusters.»

Aber welche neuen Kompetenzen eines Architekten braucht es? Das Folgende klingt womöglich etwas abgedroschen, gibt aber eine erste «Orientierung».

  • Der Architekt dient dem Unternehmen und den Teams. Er ist kein Polizist für Standards. Er führt ohne Macht, aber durch Einfluss.
  • Er setzt den Fokus auf den Wert, den er generiert, und zwar im Unternehmen und für die Kunden und Gesellschaft.
  • Er agiert als Change Agent.
  • Er übernimmt die Rolle als Coach, Facilitator und Kommunikator.

Diese Liste lässt sich noch fortführen, aber belassen wir es in diesem kurzen Beitrag bei diesen wichtigen Aspekten. Und jetzt die Frage an Euch: Kennt Ihr einen Architekten, der das leisten kann? 

Und die neue Architektur – ist die jetzt «chaotisch»?

Mir gefällt der Gedanke einer Jazz-Komposition, die ich bereits vor etwa 13 Jahren in einem Artikel von August-Wilhelm Scheer gelesen habe (siehe http://bit.ly/scheer-jazz). Er verwendet in diesem Zusammenhang den Terminus «Emergenz», d.h. – grob umschrieben – sich selbst aus dem Kontext entwickelnde Strukturen wie Prozesse und Architekturmuster.

Scheer betont aber auch, dass es die immer richtige Balance zwischen Stabilität und Flexibilität braucht, um Kreativität bei der Lösungsfindung optimal zu fördern. So soll mit dem Minimalset von Regeln die grösstmögliche Kreativität erzielt werden. Und: Nur durch die Interaktion der Beteiligten kann eine emergente und brauchbare Komposition entstehen.

Architektur ist keine One-Man Show aus dem Leuchtturm, sondern muss sich aus der Interaktion der Beteiligten (emergent) entwickeln. Und Scheer bringt hier auch den Begriff der Improvisation ein. Das ist genau die Fähigkeit, die wir heute so sehr brauchen und i.d.R. bei Architekten wenig oder nicht spürbar ist. Improvisation braucht es nicht nur aufgrund von «Covid-19», sondern das fordert unsere Zeit. Ein guter Plan, der noch heute unter Einsatz aller Kräfte umgesetzt wird, ist besser als ein perfekter Plan, der erst kommende Woche implementiert wird (vgl. auch George S. Patton).

Es lohnt sich, den Gedanken der Jazz-Komposition im Architekturmanagement einmal im spezifischen Unternehmenskontext durchzuspielen und weiter zu entwickeln. Für weiterführende Informationen, Anregungen und Fragen findet Ihr mich via www.coachingforchange.info.

 

Autor: Boris K.A. Reinhard, Dipl.-Ing. & M.Sc., ist Coach, Berater, Dozent, Trainer und führt die redminds (Switzerland), ein Mitglied von swissICT. Seine Mission ist es Individuen, Unternehmen und Organisationen bei Veränderungen zu unterstützen.

Disclaimer: Die Speaker der Lean, Agile & Scrum Konferenz 2020 haben viel Energie und Arbeitszeit in die Vorbereitung ihres Beitrags gesteckt. Leider konnte die Konferenz aus bekannten Gründen nicht stattfinden. Ihre Beiträge erhalten nun entweder im Rahmen dieses Blogs und/oder in anderen Formaten der Fachgruppe Lean, Agile & Scrum die verdiente Bühne.

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