15. Oktober 2020

«Sie haben uns angeschaut und gedacht: Was macht ihr da eigentlich?»

Cem Kulac, seit vielen Jahren engagiertes Mitglied der swissICT Fachgruppe Lean, Agile & Scrum, hat über ein Jahr lang ein Innovationsprojekt beim Warenhaus Globus verantwortet. Während eines Jahres konnten Kunden Produkte, die es sonst nur zu kaufen gab, an ausgewählten Standorten auch mieten.

Cem, was ist das Ungewöhnlichste, was du jemals gemietet hast?

Cem Kulac: Grundsätzlich bin ich ziemlich konservativ, was das Mieten von Sachen angeht. Nun, Stand-up-Paddles oder Skis habe ich bestimmt schon gemietet.

Und was war das Ungewöhnlichste, was Kunden bei Globus gemietet haben?

In der zweiten Woche nach Projektstart kam in St. Gallen ein Kunde und mietete ein ganzes Grillset: Grill, Tischgarnitur, Gläser. Vermutlich feierte er an diesem Wochenende eine gute Party. Da musste ich schmunzeln.

Was hat der erste Kunde gemietet? Weisst du das noch?

Ich weiss noch, dass wir in der ersten Woche sehr viele Damenjacken vermietet haben …

Also eher Sachen im oberen Preissegment?

Absolut! Der durchschnittliche Warenkorbwert war 500 Franken und mehr.

Wie seid ihr konkret vorgegangen bei der Auswahl der Produkte, die zur Miete freigegeben wurden? Gab es Einschränkungen?

Es fing damit an, dass der CEO auf mich zukam und sagte: Wir müssen etwas tun, wir brauchen Bewegung im Unternehmen. Er spürte die Veränderungswelle und war am Thema Sharing Economy sehr interessiert. Er hat uns dazu bewogen, uns zu überlegen: Wo und wie starten wir damit?

Ich kann mir vorstellen, dass die Diskussionen in der Geschäftsleitung nicht ganz einfach waren.

Der Auftrag vom CEO war klar, er sagte: Findet einen Weg, uns im Sharing-Economy-Umfeld zu positionieren. Auf einer Inspirationsreise hatte die Geschäftsleitung den Trend im Ausland angetroffen und sich gefragt: Was heisst das für uns? Globus hat über hundert Jahre Retail-Geschichte. Es gab innovative Phasen, doch damals stagnierte man eher (Anm. d. Red.: Start des Projekts war 2018).

Auf schwierige Diskussionen waren wir vorbereitet. Gleich zu Beginn hiess es: Könnt ihr bitte die Kategorien eingrenzen, könnt ihr bitte diese Lieferanten ausschliessen etc. Da stellten wir uns quer! Es war keine einfache Sitzung. Wir sagten bewusst: Jede Einschränkung, die wir machen, ist vergebenes Potenzial. Wir konnten am Ende alle überzeugen, uns erst einmal alles freizugeben. Es ging uns ja auch darum, zu lernen und zu verstehen, was es heisst, die Ware herauszugeben, und welche Produkte, Kategorien und Preismodelle im Mietmodell funktionieren können.

Wie seid ihr dann vorgegangen?

Die grosse Challenge war: Welche Kunden möchten wir als Erstes erreichen? Wie holen wir sie ab? Wie gewinnen wir sie als Fan, und welche Ware wollen sie? Die Early Adopters sind der Schlüssel! Wenn man die nicht überzeugen kann, dann ist die Idee nicht gut genug.

Wie habt ihr euch die Early Adopters vorgestellt?

Wir haben unsere acht bis zehn Kundengruppen, die wir von der Organisation schon kannten, auf den Tisch gebracht, sie alle übereinandergelegt und dann ihre Charakteristiken angeschaut. Gleichzeitig wollten wir aber auch mehr über die Welt erfahren, die wir nicht kennen. Wir waren dazu die ersten zwei Wochen jeden Tag auf der Strasse in Zürich und St. Gallen, haben einfache Flyer verteilt und viel mit Menschen gesprochen. Wir zeigten Flyer mit Yoga-Matten, Velos, Kleidern, Weihnachtskugeln oder Kerzen – wirklich ganz bunt und breit. Wir hatten unterschiedliche Angebotsstrukturen mit verschiedensten Preismodellen entwickelt. Dabei stellten wir zum Beispiel fest, dass das Alter keine Rolle spielt. Die Lebenssituation und die Einstellung, die die Menschen gerade haben, sind viel wichtiger.

Was sich aber immer zeigte: Der Unterschied zwischen Kaufen und Mieten ist meistens ein schmaler Grat. Viele überlegen sich vor dem Kauf: Brauche ich das wirklich? Nutze ich es längerfristig? Die Option Mieten eröffnet neue Möglichkeiten für Leute, die etwas einfach nur mal ein Wochenende nutzen wollen.

Kannst du zur Pilotfiliale etwas sagen? Was waren da für Kunden unterwegs, und was haben sie gemietet?

Die Geschäftsleitung hatte die Erwartungshaltung, den Pilotbetrieb stationär zu starten. Wir entschieden uns für St. Gallen, weil der dortige Filialleiter ein sehr offener Mensch ist und sofort zu begeistern war. Wir waren zuerst in der Stadt auf der Strasse unterwegs. In der dritten Woche des Pilotprojekts haben wir eines der drei Globus-Kaufhäuser in St. Gallen mit Schaufenstern tapeziert: «Trial Store», «Komm rein!», «Alles zum Mieten», und haben die Mietpreise hingestellt.

Das ging einfach so?

Die Führung hatte schon auch ihre Bedenken. Was, wenn in einem Tag das Kaufhaus leer steht? Was passiert, wenn die Presse davon Wind bekommt? Wir steuerten den Pilotbetrieb über den Vororteinsatz und stellten uns auf den Standpunkt: Probieren wir es aus! Wir waren auch so flexibel, das Projekt im Notfall sofort wieder abzubrechen.

Und was ist dann passiert?

Das Spannendste bei dem Ganzen war, dass nichts passiert ist. Das gesamte Warenhaus war volltapeziert mit Werbebotschaften und allem Möglichen rundherum. Die Leute liefen einfach vorbei. Sie haben uns angeschaut und gedacht: Was macht ihr da eigentlich? «Was, Globus und Mietä?» Das war eine Lektion für uns.

Was habt ihr daraus gelernt?

Wir blieben eineinhalb Monate in St. Gallen und haben in dieser Zeit unser Wertangebot ständig angepasst und die Sprache verbessert. Wir waren jedoch nicht zufrieden, vor allem unsere Early Adopters, die wir anfangs identifiziert hatten, fanden wir unter den Interessentinnen und Interessenten nicht. Wir haben dann die Zielpersona noch einmal geschärft: Melissa, 25–26 Jahre alt, Studentin. Sie mietet garantiert.

Dann seid ihr nach Zürich gegangen.

Wir erkannten, dass wir einen Versuch wagen müssen, anders und neu. Nicht einfach «fischen» und zuschauen, sondern mitten im Umfeld von Melissa, in der Umgebung Zürich-Hardbrücke. Wir haben ein Objekt gesucht und auch gefunden, leider nur für eine Woche. In dieser einen Woche bauten wir kurzfristig einen Pop-up-Store auf mit passender Ware für Melissa. Wir führten Interviews durch und verteilten Gutscheine. Der Pop-up-Store hat uns eindrücklich gezeigt, was die Erwartungshaltung von Melissa ist. Danach, in den Projektwochen 7 und 8, entschieden wir uns, digitaler zu werden. Melissa erreichen wir nicht allein mit dem Schaufenster oder im Pop-up-Store. Innerhalb einer Woche haben wir eine eigene Website mit Online-Shop zusammengeklickt, jenseits der Globus-Standards, mit einer ganz einfachen Struktur.

Was war der Effekt?

Wir haben ab Tag 3 die ersten Produkte vermietet und permanent Geld verdient. Nur ist der Online-Kanal, den wir nachträglich aufgebaut hatten, viel einfacher zu steuern. Er war konsequenter, wir konnten besser auf Zielkunden eingehen und diese sozusagen bearbeiten. Zu Höchstzeiten hatten wir parallel vier komplette Websites, darunter eine für Herren- und eine für Damenprodukte. Letztlich bauten wir für jedes Kundensegment eine eigene Seite und passende Online-Kampagnen.

Wurden die Waren alle wieder zurückgegeben? Oder gab es Kunden, die dann doch kaufen wollten, nachdem sie ausgiebig getestet hatten?

Über die gesamte Projektlaufzeit hatten wir eine Return-Rate von unter 8 bis 10 Prozent. Das ist tiefer als in vielen Online-Shops. Obwohl die Kundinnen und Kunden die Freiheit hatten, alle Waren zu mieten, wollten viele sie kaufen. Wir sahen in den Mietbedingungen vor, dass sich ab einer gewissen Laufzeit der Mietvertrag in einen Kaufvertrag wandelt.

Die Geschäftsleitung hatte ursprünglich den starken Wunsch, stationär zu experimentieren. Ihr habt dann gemerkt, dass es ohne digitale Kanäle nicht geht. Das ist ja eigentlich keine Überraschung.

Ob stationär oder digital, ist für mich nicht entscheidend. Wichtig ist die Art und Weise, wie man mit Wertangeboten und Prozessen im Hintergrund umgeht: gleich von Tag 1 an in der echten Umgebung starten und Erfahrungen sammeln. Das ist ein radikaler Gegenentwurf zum klassischen Ansatz, wo man erst ein Jahr lang entwickelt und Hunderttausende Franken ausgibt, ohne zu wissen, ob man damit je Geld verdienen kann oder nicht.

Wenn es schnell geht, kann aber auch die Servicequalität leiden.

Wir sagten uns damals, dass wir nur schöne Fassaden aufbauen, damit das Ganze hochwertig daherkommt. Im Hintergrund arbeiteten wir sehr intensiv manuell. Jede Bestellung im Online-Shop landete als E-Mail in meiner Mailbox. Mitarbeiter mussten die gemietete Ware in der Filiale suchen, um sie per Post dem Kunden zu schicken – also eigentlich null integriert. Und das ist die Botschaft in der Business-Innovation: Solange ich nicht weiss, ob es 100 Prozent läuft, muss ich keinen teuren Online-Shop bauen.

Eigentlich gut nachvollziehbar. Erst testen, dann investieren.

Testen ist ein breiter Begriff. Testen ist für mich eher Marktvalidierung. Wenn der Kunde mitmacht und für dein Angebot bezahlt, erst dann ist es getestet. Und ab der Masse, wo alles «brennt» und zusammenfällt, wo man sich denkt, dass es zu viel wird, die Qualität oder der Umsatz sinkt, dann ist die Zeit da, Geld zu investieren. Um die Stabilisierung, den Aufbau und die Skalierung kann man sich nachträglich kümmern. Sprich, Unternehmer handeln lean und bauen nicht von Anfang an einen Rolls-Royce, den vielleicht keiner will.

Inwiefern kann man das Modell, das ihr ausprobiert habt, als Vorbild für andere grosse Player anschauen?

Die Geschichte vom Trial-Store an sich ist nicht sehr spannend. Da gibt es viele Unternehmen und Start-ups, die diesen Weg auch schon eingeschlagen haben. Das Spannende sind die Erfahrung, der Weg dahin und das Mindset dahinter. Wie startet man so eine Innovation? Wie sind die Rahmenbedingungen? Meistens geht es bei gewissen Stakeholdern und Auftraggebern eher um Erwartungshaltungen als um harte Rahmenbedingungen. Das Wichtigste ist, den richtigen Mindset zu haben oder zu fördern. Mögliche Instrumente in der heutigen Welt sind Design-Thinking, Design-Sprint usw. Es gibt viele verschiedene Modelle, von denen wir selbst mehrere ausprobiert haben. Wenn wir merkten, dass das Modell nicht passt, testeten wir ein neues. Wir haben im Projekt laufend dazugelernt. Das ist zentral.

Das Projekt ist abgeschlossen und wird nicht weitergeführt. In der Zwischenzeit hat die Migros Globus verkauft. Gibt es eine Chance, dass die Konzernleitung trotzdem einen Teil daraus mitnimmt für die Zukunft? Was ist geplant?

Wir haben das Projekt im Jahr 2018 angefangen und bis Mitte 2019 am Leben erhalten. Die Strategie der neuen Eigentümer ist, soviel ich erfahren habe, eine andere. Ob die Erfahrungen des Trial-Store genutzt werden, ist stark davon abhängig, wer in der Geschäftsleitung bleibt und die Reise des neuen Globus mitmacht.

Machen wir weiter mit der Reflektion. Was braucht es, damit eine Konzernleitung, die andere Verhaltensmuster und Entscheidungswerte gewohnt ist, sich auf so ein Experiment einlassen kann?

Es war viel Überzeugungsarbeit nötig! Darüber hinaus braucht es seitens der Führungskräfte einfach auch Durchhaltewillen und Mut. Wir haben ganz viele unterschiedliche Situationen erlebt. Vom Kaffeeklatsch-Gelächter über «das funktioniert doch nicht», «was für ein Blödsinn» bis hin zu Mitarbeitern, die bei uns vorbeischauten und uns dafür dankten, dass wir etwas Ausgefallenes umsetzen. Diese Momente haben wir aktiv für uns genutzt und sind sehr transparent damit umgegangen. Wir hängten jegliche Kritik von Mitarbeitern anonym an unsere Wand, egal ob positiv oder negativ, und teilten sie in der Organisation aktiv. Damit die Leute sehen, was wir, als Piratenhaufen, überhaupt versuchen, um Veränderung vorantreiben zu können.

Ihr habt also jegliche Kritik aufgenommen und auf Post-it notiert.

Wir schrieben Themen auf Flipcharts und stellten Wände auf, klebten Interviewinhalte, Fotos und Statements auf Whiteboards und platzierten sie teilweise bis vor den Lift beim Eingang. Wir zeigten den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, was wir täglich lernten, und fragten sie, was sie davon halten. Wir fragten sie auch, ob sie jemanden kennen, der uns weiterhelfen könnte. Alle drei bis vier Tage stellten wir sämtliche Unterlagen und die wichtigsten Instrumente im Gang der Konzernzentrale auf.

Wie kam das an?

Es führte auch zu negativen Situationen. Eine Abteilungsleiterin schimpfte mit uns und meinte, wir sollten dringend einen Lieferanten aus dem Angebot nehmen, weil sie mit ihm im Retail einen guten Umsatz mache. Was uns eigentlich einfalle, die Ware rauszugeben, ohne mit ihr Rücksprache zu halten. Das war ein sehr spannendes Gespräch.

Wie habt ihr reagiert?

Wir sind auf alle Lieferanten zugegangen, bei denen sie dachte, dass es nicht funktionieren könne. Doch von den Lieferanten erhielten wir positives Feedback. Sie lobten uns für den Mut. Am Ende sind keine Lieferanten abgesprungen.

Dann waren es unbegründete Bedenken?

Ich habe viel Verständnis für die Bedenken. Man hat jahrelang mit Partnern und Marken zusammenarbeitet und eine sehr gute Kooperation aufgebaut, und nun kommt ein Pirat, der alles über den Haufen wirft. Das könnte doch die Beziehung ruinieren, der Lieferant will das sicher nicht. Das sind oft subjektive Meinungen und Annahmen, die sich häufig als falsch herausstellen, wenn man mit Lieferanten ins Gespräch steigt.

Waren grosse Lieferanten, also etablierte und renommierte Marken, gleich offen wie junge, kleine Anbieter?

Absolut. Für die jungen Lieferanten ist es ohnehin spannend, weil sie so neue Reichweite erzielen können. Für die grösseren, die im Konzerncharakter daherkommen, ist nicht von heute auf morgen alles perfekt. Trotzdem ist das für sie okay, sie schauen einfach mal, wie es sich entwickelt. Sie wissen ja auch, dass ein Wandel im Gang ist. Einzelne Lieferanten wollten das Modell sogar selbst ausprobieren.

Wie lange wäre es bei dem Modell im Globus aus deiner Sicht noch gegangen, bis man effektiv eine ausgereifte Lösung gehabt hätte? War das in der Geschäftsleitung ein realistisches Szenario? Oder war von Anfang an klar, dass es ein «Versuchslabor» ist?

Die Erwartungshaltung war schon, dass wir etwas aufbauen. Man wollte auch über den Prozess Bescheid wissen, es gab Fragen zum Budget. Wir sagten, dass wir schon Prozesse umbauen könnten, dass aber die Realität zeigen werde, wie das Modell schliesslich aussehen soll. Wir haben das Vertrauen vom CEO gespürt, haben die Geschäftsleitung aktiv eingebunden und alle zwei Wochen gezeigt, wie weit wir sind.

Wie hilft dir diese Erfahrung für deine zukünftigen Projekte?

Wir hatten anfangs im Mietumfeld zehn bis fünfzehn Innovations- und Geschäftsmodell-Ideen. Wir starteten mit dem ersten Modell und setzten uns selbst Ziele. Da kam es oft vor, dass wir nach einer Woche selbst aus dem Paradigma rauskamen und einen Schritt zurückgingen. Den Mut zu haben, wieder ganz von vorne anzufangen, das ist echt schwierig und anstrengend. Wir schafften es nur, weil ich sehr gute Teammitglieder um mich hatte. Wir forderten uns alle paar Tage gegenseitig heraus: Haben wir unser Bestmögliches gegeben, oder sind wir in der Routine? Das war sehr wertvoll. Dies dann zu fassen und zu sagen, wir müssen von Schritt 10 wieder zurück zu Schritt 2 oder 3 – das habe ich als Learning aktiv mitgenommen, dass ich meine Vorhaben weiterhin so orchestriere. Das führt allerdings unweigerlich zu Schwierigkeiten und Herausforderungen mit dem Umfeld. Auftraggeber müssen bereit sein, solche Pilotprojekte zuzulassen und darauf einzugehen. Auch wenn man es von Anfang an zehnmal kommuniziert, am Ende kannst du dir nicht ewig solche Versuche leisten.

Danke, dass du über das Projekt und die Erfahrung gesprochen hast.

 

Anmerkung: Dieses Interview wurde in gekürzter Fassung in der Ausgabe des swissICT Mitglieder-Magazins 03/2020 publiziert.

Mit Ihrem Besuch auf unserer Website stimmen Sie unserer Datenschutzerklärung und der Verwendung von Cookies zu. Dies erlaubt uns unsere Services weiter für Sie zu verbessern. Datenschutzerklärung

OK