25. Mai 2022

Mit Business-Capabilities zu einer erfolgreichen ERP-Transformation

Um das gesamte Potential einer SAP S/4 HANA Transformation auszuschöpfen, ist weit mehr als ein rein technischer Uplift erforderlich!

von Stefan Dittrich, Timon Zuber, Ivan Kovynyov

Der Umstieg auf SAP S/4 HANA bietet für die SAP-Kunden zahlreiche Chancen, um die eigene ERP-Landschaft zukunftsfähiger zu gestalten: Bereinigung der Altlasten, Umsetzung neuer Business-Anforderungen, Einführung neuer Funktionalitäten und nicht zuletzt Vereinfachung der Geschäftsprozesse.

Die Praxis zeigt jedoch, dass viele Transformationen zu SAP S/4 HANA die Zielerreichung verfehlen. Die Ursache dieser enttäuschenden Resultate beruht oftmals auf der Uneinigkeit darüber, in welcher Verantwortung das Projekt liegt: beim Business oder in der IT?

In vielen Fällen wird die SAP S/4 HANA Transformation als reines IT-Projekt eingestuft, welches durch die SAP-Produktstrategie aufgezwungen wird. Dies führt dazu, dass die Umsetzungsplanung ausschliesslich aus technischer Perspektive erfolgt und der transformative Effekt auf das Business vernachlässigt wird. Das Business zeigt dadurch kein Commitment und hat kaum Bereitschaft, Ressourcen für die Transformation bereitzustellen. Darüber hinaus gibt es Befürchtungen, dass sich das Projekt gar negativ auf die Durchschlagskraft am Markt auswirken könnte.

Sollte die Transformation als reines Business-Projekt angesehen werden, fehlt wiederum die technische Perspektive. Hier werden Entscheidungen getroffen, welche ausschliesslich auf Business-Kriterien wie z.B. dem ROI basieren und dabei die technischen Schulden bzw. Architekturschulden vernachlässigen. Dies wird potenziell zu steigenden Wartungskosten, einer unübersichtlichen Architektur sowie längeren Time-to-Market-Zyklen führen.

Aufwändige ERP-Transformationsvorhaben sind eher erfolgreich, wenn sie von der gesamten Führungsebene getragen werden und somit das ganze Unternehmen strategisch vorantreiben. Die Einbindung der relevanten Stakeholder ist dabei ebenso bedeutend, wie die Ausarbeitung einer gemeinsamen und zukünftigen Werteperspektive durch ein orchestriertes Zusammenspiel zwischen der IT- und der Businessorganisation. Wie erreichen wir das?

ERP-Capabilities als Brückenschlag zwischen Business und IT

Das zentrale Instrument sind die sogenannten ERP-Capabilities: Fähigkeiten eines zukünftigen ERP-Systems. Sie fassen neue und bestehende Business-Anforderungen in einfacher Form aggregiert zusammen und werden in Businesssprache formuliert.

Dabei sollen grundsätzlich die drei folgenden Kategorien der Business-Anforderungen berücksichtigt werden: bestehende Funktionalität, neue bekannte Anforderungen sowie neue Anforderungen, welche zum Zeitpunkt der Erhebung noch unbekannt sind. In diesem Zusammenhang soll zunächst die bestehende Funktionalität überprüft werden: was davon ist erhaltenswert bzw. was davon muss weg? Erhaltenswerte Eigenschaften bilden die Basis der Liste mit den ERP-Capabilities. Bei neuen Anforderungen ist es wichtig, das Unbekannte zu reduzieren. Absehbare Änderungen können aus der Business-Strategie bzw. aus dem Projektportfolio abgeleitet werden. Sie werden ebenfalls als ERP-Capabilities aufgenommen.

ERP-Capabilities sollen gleich vor Beginn der Transformation festgehalten werden. Darauf aufbauend soll die Zielarchitektur entwickelt werden. Im Rahmen der Architekturentwicklung wird vor allem der Bedarf an Standardprodukten und Individualentwicklungen bestimmt. Nicht zuletzt wird der SAP-Integrationsplan inkl. Migrationsansatz (Greenfield, Brownfield, Hybrid etc.) auf Basis der ERP-Capabilities erstellt.

Die ERP-Capabilities sollen so formuliert werden, dass sie wichtige Differenzierungsfaktoren beschreiben, durch welche ein zukünftiger Wettbewerbsvorteil geschaffen werden soll, z.B. Umstieg von B2B auf B2C, Omnichannel-Marketing oder Einstieg in eCommerce. Idealerweise sollen ERP-Capabilities einen Link zu den Geschäftsprozessen haben: Lagerautomatisierung, papierlose Offertenerstellung oder Zusammenführung der Kundendaten.

Vorgehen zur Erarbeitung der ERP-Capabilities

Folgende Schritte sind zur Erarbeitung von ERP-Capabilities notwendig: Ramp-up, Erhebung sowie anschliessende Konsolidierung und Priorisierung der ERP-Capabilities.

Abb 1: Idealtypisches Vorgehen zur Erhebung von ERP-Capabilities

Ramp-Up: Hier ist es essenziell, dass sich die verantwortlichen Personen aus der IT zunächst grundlegend mit dem Thema S/4 HANA und den wesentlichen Vorteilen des neuen ERP-Systems auseinandersetzen. Weiter müssen die relevanten Schlüsselpersonen aus den verschiedenen Geschäftsbereichen, welche in Bezug auf ihre Business Anforderungen an die neue ERP-Lösung befragt werden sollen, identifiziert werden. Idealerweise werden die Entscheidungsträger aus der Businessorganisation bereits in dieser Phase in das Transformationsprogramm integriert, da deren Verständnis und das damit verbundene Commitment ausschlaggebend für den weiteren Projektverlauf sein werden.

Erhebung der ERP-Capabilities: In der zweiten Phase werden die ERP-Capabilities durch Interviews und Umfragen erhoben. Hierbei empfiehlt es sich, die Erwartungshaltung der Untersuchungsteilnehmer gegenüber der neuen ERP-Lösung zunächst mit einem strukturierten Fragebogen abzuholen und auszuwerten. Neben den allgemeinen Bedürfnissen und Pain-Points in Bezug auf die aktuelle Systemlandschaft können dabei auch die Anforderungen, Ziele, Projekthindernisse und -Erfolgsfaktoren sowie der erhoffte Mehrwert durch die ERP-Transformation abgefragt werden. Ebenso müssen auch Erfolgsgrössen für die IT und das Business definiert werden, wie künftig Capabilities messbar gemacht werden können. Anschliessend soll das erarbeitete Meinungsbild soll durch qualitative Befragungen geschärft und auf einer konkreten Ebene aufgeschlüsselt werden.

Das Ziel dieser persönlichen Interviews ist es, die spezifischen ERP-Fähigkeiten, die vor dem Hintergrund der ERP-Migration erwartet oder erwünscht werden aus den verschiedenen Verantwortungsbereichen zu identifizieren. Schlussendlich entsteht für jede Geschäftseinheit ein Katalog mit kennzeichnenden ERP-Capabilities, die den Business-Nutzen durch die S/4HANA Transformation darstellen.

Konsolidierung und Priorisierung der ERP-Capabilities: Wesentliche Ergebnisse aus den Interviews werden aufbereitet und ausgewertet, um gemeinsam mit der Businessorganisation erste Schlussfolgerungen über den weiteren Transformationsverlauf ziehen zu können. Die Liste an gewonnen ERP-Capabilities soll dabei als Kommunikationswerkzeug zwischen Business und IT genutzt werden und bildet die Basis für ein zukünftiges Entscheidungssystem in Bezug auf den Transformationsansatz, die ERP-Architektur und die zugehörige Toolunterstützung. Optimalerweise wird die Liste der ERP-Capabilities in einem reibungslosen Übergang mit den ERP-Anbietern abgestimmt, um zu überprüfen, mit welchem Aufwand die definierten Nutzenpotentiale realisiert werden können. Es müssen bewusste Entscheidungen getroffen werden, ob man in den Standardprozessen der ERP-Software verbleibt bzw. davon abweicht. Eine kurze Demonstration der S/4 HANA Funktionen und Features kann ausserdem dabei helfen, das Commitment sowie das Verständnis in den Businessorganisationen über die neuen ERP-Möglichkeiten zu erhöhen sowie die Businessseite zu inspirieren. In einem Abschlussworkshop werden die identifizierten ERP-Capabilities final abgestimmt, bewertet und priorisiert. Dort erfolgt die Ausarbeitung von messbaren Erfolgsfaktoren und KPIs.

Wer bei dem Transformationsprojekt keine Business-Ziele definiert, wird diese auch nicht erreichen. Der ganzheitliche und methodische Ansatz zur Erhebung der ERP-Capabilities stellt sicher, dass die Business-Anforderungen bereits frühzeitig in den Migrationsplan integriert werden und die spätere ERP-Lösung nicht nur auf den gegenwärtig bekannten, sondern auf den zukünftig erfolgreichsten Prozessen basiert.

Bild: Adobe Stock

Autor: Ivan Kovynyov ist Practice Lead bei Zühlke in Zürich und berät die Kunden im Bereich der CIO Advisory. Ivan Kovynyov studierte Wirtschaftsinformatik an der Universität Karlsruhe und absolvierte sein MBA-Studium am Imperial College London und New York University. Ivan Kovynyov ist Autor und schreibt für diverse Online-Medien zu den Themen der Einführung von Agilität, der digitalen Transformation in Unternehmen, Digitalisierung von Prozessen und Innovation. Der Fokus seiner Beiträge liegt auf der Schnittstelle zwischen Business und IT.

Co-Autoren: Stefan Dittrich, Timon Zuber

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