23. August 2021

Wieviel Schweiz braucht Europa?

Die Schweiz geniesst ihre politische Freiheit. Ohne Rahmenvertrag mit der EU dürfen wir nun völlig unbeschwert unseren Alleingang pflegen. Ein E-ID-Gesetz brauchen wir keines, da wir … nun, mir ist immer noch nicht ganz klar, wieso wir keines brauchen.
Meinung

Ah ja, wir haben Vertrauen in den Staat, da der ja nie Daten missbraucht hat (Fichenaffäre? …) und uns aus der Privatwirtschaft technologisch um Längen voraus ist. Oder war es am Schluss doch nicht das Vertrauen in den Staat, das dem Referendum den Rücken gestärkt hat? War es vielmehr das Gegenteil, nämlich die Unzufriedenheit gegenüber der Regierung – nicht zuletzt als Folge der Corona-Informationspolitik? Ähnliche Fragen werden wir uns auch nach dem abgelehnten CO2Gesetz stellen müssen.

Doch zurück zum Rahmenabkommen. Endlich! Mögen hier wieder die einen sagen. Das nie endende Thema ist vom Tisch. Nun ja, das Abkommen ist vom Tisch. Die Herausforderung, wie wir uns als Binnenstaat, also als Insel im Ozean der europäischen Nachbarn, in Zukunft durchschlagen wollen, noch nicht. Genauso, wie wir immer noch nicht wissen, wie wir uns als Bürger oder Unternehmen im Internet ausweisen werden. Aber auch daran wird ja mit Hochdruck gearbeitet – so hört man zumindest aus Bern. In der Zwischenzeit wird darüber nachgedacht, wie das gesetzlich längst verankerte Patientendossier nun in der Praxis eingeführt werden soll. Da geht es um hoch sensible Daten und alles muss maximal sicher sein. So auch der Zugriff und die Identifikation der Bürger. Die müssen nun alle eine E-ID haben – sorry, ich schweife schon wieder ab.

Diesen Frühling – als das Problem noch lösbar schien – haben wir uns an den Bundesrat gewandt und ihn in einem Brief gebeten, doch sicherzustellen, dass wir im Horizon-Programm drinbleiben. Dass nicht die ganzen europäischen Forschungsgelder in Bereichen wie Raumfahrt, künstliche Intelligenz oder Quantencomputing einen grossen Bogen um die Schweiz machen mögen. Freundlich wurde geantwortet, das Verständnis für unser Anliegen sei selbstverständlich gross und diese Themen hätten Gewicht in den Gesprächen mit der EU.

Ja, Verständnis für die Schweizer Anliegen, die sind vorhanden. Verständnis für die Anliegen des grossen Verhandlungspartners und für dessen Prioritäten? Ich weiss es nicht. Deshalb kann ich es nachvollziehen, dass Europa den Sonderweg von Appenzell Innerhoden (sorry, ihr seid mit 16 000 Einwohnern nun mal der kleinste Kanton der Schweiz) nicht einfach so akzeptiert. Der Vergleich passt fast schon mathematisch gut: 8 Millionen Schweizer können sich mit den über 400 Millionen Europäern nicht einigen.

Dass Europa aber nicht nur in Richtung Schweiz schaut, das hat noch ganz andere Gründe. Pandemien sind global, Ökonomien auch. Frühere Vormachtstellungen lösen sich auf und geopolitisch relevante Konflikte brodeln nicht erst seit Trump und Putin. Das imperialistische Europa des 19. Jahrhunderts ist drauf und dran, sowohl militärisch als auch politisch und leider auch zunehmend ökonomisch ins Hintertreffen zu geraten. Länder, die in meiner Jugend noch als arm galten, rücken unterdessen auf Spitzenplätze von globalen Ranglisten vor. 1970 war die Wirtschaft von China noch weniger als halb so gross wie die von Deutschland. Heute ist sie viermal so gross. Sogar ein Land wie Thailand wuchs viermal schneller und liegt unterdessen in der Grössenordnung der Schweiz. Interessant ist aber vor allen Dingen auch, wer von diesem Wohlstand wie viel in die Rüstung investiert. Noch liegen die USA hier weit in Führung (770 Mia. $) – aber China (250 Mia. $) liegt bereits auf Platz 2 und gibt doppelt so viel wie Deutschland, Frankreich und Italien zusammen aus. Tendenz steigend.

Deshalb muss sich Europa um seine globale Wettbewerbsfähigkeit – in jeder Domäne (wirtschaftlich, politisch und militärisch) – kümmern, und nicht um die Insel Schweiz in der Mitte. Die wird dann – wenn der aussenpolitische Druck (nicht der von Europa auf uns, sondern der vom Rest der Welt auf uns) gross genug wird – schon auch mitmachen. Welchen Nutzen oder Schaden wir bis dann aufgrund unseres Alleinganges hatten, das wird die Zukunft weisen.

Ach ja, dieser Tage hat die EU ein Projekt gestartet, um eine europäisch einheitliche oder zumindest interoperable E-ID-Infrastruktur aufzubauen. Dafür gibt sie viel Geld aus. Vielleicht sollten wir dort mitmachen. Das muss aber der Bund finanzieren und nicht die Privatwirtschaft – so hat der Souverän entschieden.

Thomas Flatt ist Präsident swissICT, Unternehmer, Berater und Verwaltungsrat (darunter Verwaltungsratspräsident der SwissSign Group, welche die SwissID herausgibt)

(Diese Kolumne «Seitenblick» erscheint ebenso im swissICT Mitgliedermagazin vom August 2021 und muss nicht die Meinung von swissICT wiedergeben.)

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