15. April 2020
«Better sane than safe» – was ich als Arzt, Informatiker und Unternehmer von Covid-19 halte
Am 28. Februar diskutierten wir noch die stillstehende Produktion in China und die damit unterbrochenen Lieferketten, die die hiesige Industrie im Mark treffen würden.
Heute, am Karfreitag, an welchem ich diese Zeilen schreibe, reden wir nicht mehr von China, sondern vom Herzen unserer Wirtschaft. Die Prognosen, was uns der selbst verordnete «Lockdown» kosten wird, übertreffen alles bisher Dagewesene. Mindestens 10 Prozent der diesjährigen Wirtschaftsleistung werden wegfallen. Dies sind 60 Milliarden Franken – allein im Jahr 2020.
Dafür, dass der Bundesrat aufgrund von Expertenmeinungen und dem Verhalten anderer Länder keine andere Wahl hatte, als ebensolche Verordnungen zu erlassen, habe ich Verständnis. Auch musste man Zeit gewinnen, um die Tragweite der Erkrankungen wie auch die Folgen für die Gesellschaft (ich sage bewusst Gesellschaft und nicht Wirtschaft) zu verstehen. Als braver Schweizer Bürger halte ich mich an den Lockdown und respektiere den Gedanken der Solidarität und die Weisungen der Obrigkeit. Dies nicht nur aus Altruismus, sondern weil ich, wenn auch noch nicht zur klassischen Risikogruppe gehörend, natürlich nicht krank werden möchte. Während ich aber im Homeoffice arbeite, meine Kinder unterrichte, auf sämtliche Freizeitaktivitäten verzichte, bleibt trotz 16-Stunden-Tag noch Zeit, über unser Verhalten zu reflektieren und es ein wenig in Perspektive zu setzen.
Rein medizinisch wissen wir unterdessen, dass die Krankheit in den meisten Fällen harmlos verläuft, dass es keine spezifische Therapie gibt und dass ältere und geschwächte Menschen daran sterben können. Im Kanton Zürich sind dies bis heute, Karfreitag, 62 Menschen mit einem Durchschnittsalter von 85 Jahren, die zum Zeitpunkt ihres Ablebens positiv auf das Virus getestet worden sind. Wie gefährlich das Virus ist, können wir heute noch nicht beurteilen. Zu unterschiedlich und ungenau sind die statistischen Daten. Auch wissen wir nicht, welchen Effekt der Lockdown hat und wie die epidemiologische Entwicklung ohne diese Massnahmen gewesen wäre. Experten gehen davon aus, dass über die Zeit etwa zwei Drittel der Bevölkerung eine Erkrankung durchmachen werden. Das heisst, dass wir die Ausbreitung zwar verlangsamen, nicht aber aufhalten können werden. Wir verhindern also einzig die Spitzenbelastung des Gesundheitswesens. Abgesehen von Todesfällen aufgrund einer möglichen Überbelastung des Gesundheitswesens werden also keine Leben gerettet.
So schlimm der Schock für unsere Gesellschaft ist, so erleben wir aber auch ein interessantes Experiment und bekommen vielleicht einen ersten Hinweis darauf, wie unser Leben in einer wirklich digitalisierten Welt aussehen könnte. Verblüffend ist es, wie viele Sitzungen plötzlich nicht mehr notwendig sind, wie man Geschäfte auch ohne Reisen abschliessen kann und dass online einkaufen fast so viel Spass machen kann wie das klassische «Lädele». Da niemand weiss, wie lange wir in unserem Verhalten eingeschränkt sein werden, löst die aktuelle Situation mit Sicherheit einen Digitalisierungsschub aus. Denn jetzt gilt, wer nicht digital mit seinem Kunden kommuniziert und wer seine Produkte und Dienstleistungen nicht über das Internet anbietet, der wird diese Krise nur schwerlich überstehen.
Offensichtlich ist aber auch, dass uns der Schwatz am Kaffeeautomaten schon nach kurzer Zeit fehlt und dass wir uns sozial depriviert fühlen, wenn wir nicht ins Büro oder in die Schule gehen dürfen. Aus unserer Branche bekomme ich unterschiedliches Feedback. Die Sorge Nummer eins ist, dass Projekte gestoppt und Beschaffungen hinausgezögert werden. Auch klagen viele darüber, dass die Führung von Unternehmen und Menschen ohne persönlichen Kontakt sehr schwierig sei. Gleichzeitig höre ich aber auch, dass gewisse Abteilungen plötzlich viel effizienter arbeiten, da Unnötiges oder wenig Dringendes weggelassen wird. Dies geht so weit, dass einige hinter vorgehaltener Hand fragen, ob es denn wirklich so viele Mitarbeiter in den jeweiligen Abteilungen brauche.
Für unsere Branche bin ich also vorsichtig optimistisch, denn der Digitalisierungszug fährt, und er wird nach dieser Phase eher schneller fahren als zuvor. Allerdings wird ein weiteres Abwürgen der Wirtschaft auch die Unternehmen in unserer Branche hart treffen.
Weniger optimistisch bin ich allerdings für viele andere Teilnehmer unserer Wirtschaft. Auch wenn der Staat (und das sind wohlgemerkt wir alle als Steuerzahler) nun grosszügig Hilfe anbietet, so sind wir dabei, Dinge zu zerstören, die nicht automatisch wieder funktionieren werden. Kleinbetriebe, die wenig Reserven haben, Start-ups, die, kaum losgerannt, schon wieder stolpern, oder Infrastrukturen wie z.B. die Airline-Industrie sind akut gefährdet. Und wir häufen dabei Schulden an, die jemand bezahlen muss. Nicht irgendjemand, sondern die heute arbeitende Bevölkerung und deren Kinder.
Wenn ich also als Arzt, Unternehmer, Informatiker und Familienvater heute eine Entscheidung treffen müsste, dann gibt es für mich nur eine logische Konklusion. Wir brauchen Solidarität. Solidarität mit unseren Kindern und unserer Zukunft. Wir müssen wieder in einen geordneten Alltag zurückfinden und trotz des Risikos für unsere Eltern und Grosseltern den Lockdown beenden. Mit der nötigen Sorgfalt, aber rasch und konsequent. Ganz nach dem Motto «better sane than safe» – lieber bei Sinnen als sicher.
Bleiben Sie gesund! Und stellen Sie sicher, dass auch Ihr Computer virenfrei bleibt – Sie brauchen ihn mehr denn je.
Thomas Flatt ist Präsident swissICT, Unternehmer, Berater und Verwaltungsrat (darunter Verwaltungsratspräsident der SwissSign Group, welche die SwissID herausgibt)
(Diese Kolumne «Seitenblick» erscheint in einer gekürzten Fassung im swissICT Mitgliedermagazin vom April 2020 und muss nicht die Meinung von swissICT wiedergeben.)