11. September 2024

Warum Nearshoring funktioniert

IT-Outsourcing und insbesondere Nearshoring ist ein aufsteigender Trend in den letzten Jahren. Auch die IT-Branche in der Schweiz hat mit Fachkräftemangel und den (damit verbundenen) hohen Lohnkosten von inländischen IT-Spezialisten zu kämpfen. Um dem entgegenzuwirken, kann es in betrieblicher und finanzieller Hinsicht durchaus Sinn machen und gut funktionieren, spezialisierte Arbeitskräfte im nahen Ausland anzuheuern.

Im Interview wollten wir von Michael Krusche, Gründer und CEO von Krusche & Company in München, wissen, was Nearshoring überhaupt ist und warum und wie es für viele Unternehmen in der D-A-CH-Region funktioniert.

Michael, du hast bereits langjährige Erfahrung mit dem Outsourcing von IT-Dienstleistungen. Kannst du erläutern, was Nearshoring ist?

Nearshoring im IT-Sektor ist ein Unterbereich von IT-Outsourcing, der Auslagerung von IT-Projekten an Drittunternehmen. In den DACH-Ländern (Deutschland, Österreich, Schweiz) bezieht sich Nearshoring auf die Einstellung von Arbeitskräften im nahen Ausland, meist in Osteuropa wie beispielsweise in Polen, der Ukraine, Bulgarien oder auch Aserbaidschan. In der Schweiz versteht man unter Nearshoring auch die Auslagerung von Arbeit in näher gelegene Länder wie Deutschland oder Grossbritannien.

«Nearshoring im IT-Sektor ist ein Unterbereich von IT-Outsourcing, der Auslagerung von IT-Projekten an Drittunternehmen.»

Welches Hauptziel wird mit einer Nearshoring-Strategie verfolgt?

Unternehmen zielen hauptsächlich darauf ab, die Personalkosten bei gleichbleibender oder gar höherer Arbeitsqualität zu senken. Das Lohnniveau ist in Osteuropa, oder teilweise auch in Deutschland, niedriger als in der Schweiz. Aufgrund des Charakters von IT-Berufen können die ausgelagerten Arbeiten zum grössten Teil remote aus der Ferne erledigt werden, was Reisekosten und Spesen auf ein Minimum reduzieren kann und gleichzeitig oft zusätzlich benötigte Büroräumlichkeiten einspart.

Viele Firmen bevorzugen nach wie vor ein festangestelltes IT-Spezialisten-Team vor Ort. Warum ist die Auslagerung von Arbeit deiner Meinung nach in gewissen Fällen zu bevorzugen?

Es kann in bestimmten Fällen durchaus Sinn machen, ein fest angestelltes IT-Inhouse-Team zu haben. So zum Beispiel, wenn ein Unternehmen einen konstanten Bedarf an IT-Fachkräften mit gewissen technischen Fähigkeiten hat und diese über längere Zeit gut ausgelastet werden können. Oft gibt es aber gerade im IT-Bereich Schwankungen in der Nachfrage oder Änderungen der Marktbedingungen. Die meisten Unternehmen haben einen gewissen Bedarf an IT-Infrastruktur und Softwareentwicklung. Die Grösse des Bedarfs variiert jedoch häufig und hängt von den jeweiligen aktuellen Projekten ab. Mit der Auslagerung von Arbeit an Drittunternehmen bzw. Nearshoring kann man flexibel auf solche Schwankungen reagieren und die Anzahl sowie das Profil von Spezialisten kann, je nach Projektanforderungen, angepasst werden.

Ausserdem haben einige Unternehmen mit dem grassierenden Fachkräftemangel der letzten Jahre kaum eine Wahl und sehen sich gezwungen, sich ausserhalb des lokalen Arbeitsmarkts umzuschauen. Arbeitsmärkte im nahen Ausland wie in Osteuropa weisen ein ausgeglicheneres Angebot-Nachfrage-Verhältnis auf und hochqualifizierte Fachkräfte sind dort meist ohne Weiteres verfügbar.

Die Team- und Projektgrösse spielt auch eine Rolle beim Erwägen, ob sich Nearshoring lohnt. Grundsätzlich gilt, dass eine Teamgrösse von mindestens drei bis fünf Personen und eine Projektlaufzeit von mindestens drei Monaten für den effizienten Einsatz von Nearshoring vorausgesetzt wird. Bei kürzeren Zeiträumen sind Einarbeitungszeit und Kommunikationsaufwand zu hoch, um von den Vorteilen von Nearshoring zu profitieren.

 «Mit Nearshoring können Personalkosten eingespart und die Effizienz in einem Unternehmen erhöht werden.»

Abgesehen von der Kostenreduktion, der erhöhten Flexibilität und der erleichterten Einstellung; welche Vorzüge bringt Nearshoring sonst noch mit sich?

Mit Nearshoring kann die Effizienz in einem Unternehmen erhöht werden, indem man die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Kernkompetenzen richtet und Aufgaben wie IT-Dienstleistungen, die nicht zum Hauptgeschäft gehören, an darauf spezialisierte Anbieter auslagert. So kann die Rekrutierung von externen Fachkräften oder ganzen Fachteams Unternehmen Zugang zu spezialisiertem Fachwissen und Fähigkeiten verschaffen, die im eigenen Unternehmen oder gar auf dem lokalen, inländischen Arbeitsmarkt nicht ausreichend verfügbar sind.

Auch das Risikomanagement eines Unternehmens lässt sich über Nearshoring flexibel steuern. Bestimmte Funktionen oder Prozesse (bis zum Erfolgsrisiko eines Projekts) können so zum Teil oder ganzheitlich an ein Drittunternehmen ausgelagert werden.

Wie wirkt sich Nearshoring in den Zielländern aus? Fehlen dort dann Fachkräfte?

In den Zielländern, wie der Ukraine, gibt es keine negativen Auswirkungen auf den Fachkräftemarkt. Im Gegenteil, Nearshoring fördert die lokale Wirtschaft, da es eine wichtige Exportbranche dieser Länder darstellt. Diese Länder bilden viele IT-Spezialisten aus, die vor Ort oft keine Arbeitsmöglichkeiten haben und daher auf internationale Projekte angewiesen sind.

Welche zusätzlichen Herausforderungen kommen bei einer Nearshoring-Strategie auf ein Unternehmen zu?

Neben den positiven Aspekten von Nearshoring kann man nicht verleugnen, dass es damit auch zusätzliche Hürden zu überspringen gilt.

Kommunikationsprobleme und Sprachbarrieren sind ein mögliches Problem. Die meisten Nearshoring-Fachkräfte sprechen kein Deutsch. Das kann bei der Kundenkommunikation ein gewisses Problem darstellen. Jedoch hat sich Englisch im IT-Bereich und in Entwicklerkreisen als Hauptsprache etabliert. Oft besitzt der Projektleiter, über den der Grossteil der Kommunikation läuft, auch gewisse Deutschkenntnisse.

«Home-Office hat sich seit der Covid-Pandemie für viele Mitarbeiter als übliche Arbeitsweise etabliert.»

Auch ein direkter Austausch untereinander im Büro ist nicht möglich und die gemeinsame Kaffeepause fällt weg. Spätestens aber seit der Covid-Pandemie hat sich Home-Office für viele Mitarbeiter als übliche Arbeitsweise etabliert; in unserem Unternehmen trifft dies inzwischen auf mehr als 90 Prozent aller Mitarbeiter zu, auch weil diese in verschiedenen Ländern verteilt sind. Die heutigen digitalen Möglichkeiten wie Videomeetings oder Firmen-Chats ermöglichen eine proaktive Kommunikation auf Distanz. Es hat sich erwiesen, dass ein Grossteil unserer Mitarbeiter diese Arbeitsform schätzt, da sie oft die Effizienz erhöht und das Pendeln wegfällt.

Um den Mitarbeitern trotzdem eine Möglichkeit zum direkten Austausch untereinander zu geben, hat sich der Betrieb von Büroräumlichkeiten und/oder Coworking-Hubs in verschiedenen Nearshoring-Ländern bewährt. So hat das Personal vor Ort auch die Wahl zwischen einem hybriden oder Büro-Arbeitsmodell. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit zur sozialen Anbindung innerhalb der Firma, zum Beispiel beim gemeinsamen Weihnachtsanlass in der entsprechenden Filiale.

Wie sieht es mit kulturellen Unterschieden und abweichenden Erwartungen aus?

Natürlich bringt Nearshoring unweigerlich verschiedene Kulturen und Geschäftspraktiken zusammen. Ein Ignorieren dieser Tatsachen kann die Kommunikation zwischen dem Dienstleister und dem Unternehmen erschweren, was wiederum schnell zu abweichenden Erwartungen und Missverständnissen führen kann. Es ist ein schwieriges und immer wiederauftretendes Thema in unserem Unternehmen. Wie handhaben unterschiedliche Kulturkreise Themen wie Termintreue, Äusserung von Kritik oder dem Finden von Entscheidungen? Toleranz, Awareness und auch die Einführung von Regeln und Methoden haben uns in den meisten Situationen geholfen.

Teambindungs-Veranstaltungen, wo es weniger um die Arbeit als um das gegenseitige Kennenlernen über einen Kaffee oder ein Bier geht, sofern dies die räumliche Distanz zulässt, können auch helfen, Vertrautheit und Verständnis gegenüber anderen Kulturen aufzubauen. Dabei wird auch das Zugehörigkeitsgefühl zum Nearshoring-Dienstleistungsunternehmen gestärkt.

Gibt es prominente Schweizer Unternehmen, bei denen eine Nearshoring-Strategie funktioniert?

Nestlé nutzen Nearshoring erfolgreich für die globale Steuerung ihrer Webseiten, so dass sich das Marketing-Team auf seine Kernaufgaben konzentrieren kann.

Auch Informa, die ursprünglich in der Schweiz ansässig waren und jetzt in London sind, nutzen Nearshoring für die Durchführung von Online-Konferenzen.

Welche weiteren Erfolgsgeschichten kommen dir in den Sinn?

Wir haben mit dem Start-up StudySmarter zusammengearbeitet und ukrainische Nearshoring-Fachkräfte zu Verfügung gestellt. Dies verlief erfolgreich und brachte dem Unternehmen schliesslich 50 Millionen Dollar Funding ein.

«Nur 2 Prozent der abrechenbaren Stunden von K&C gingen 2022 durch kriegsbedingte Unterbrechungen verloren.»

Dabei ist noch wichtig zu erwähnen, dass unsere Mitarbeiter in der Ukraine trotz der andauernden Krise motiviert und ungehalten ihrer Arbeit nachgehen. Tatsächlich sind im Jahr 2022 nur 2 Prozent der abrechenbaren Stunden bei uns durch kriegsbedingte Unterbrechungen verloren gegangen, während wir 2023 gar keine Ausfälle zu verzeichnen hatten.

Wir haben Hubs mit Internetanbindung und autarker Ernergieversogung eingerichtet. Starlink-Sattelitenschüsseln helfen, eine stabile Internetverbindung sicherzustellen, während möglichen Stromausfällen mit mobilen Ladegeräten und Dieselgeneratoren entgegengewirkt wird.

Zur Person und Firma

Michael Krusche ist der Gründer und CEO von Krusche & Company GmbH mit Sitz in München. Er kann auf mehrere Jahrzehnte an Erfahrung im Nearshore-IT-Outsourcing-Bereich zurückgreifen. Über die Jahre konnte Michael Krusche eine weite Palette von zufriedenen Kunden bedienen und nachhaltige Partnerschaften bilden. Projekte, in denen er mit K&C involviert war, reichen vom Testmanagement für einen grossen Consumer Electronics Shop in Deutschland bis zu der Entwicklung des Frontends (Präsentationsebene) für den DeFi-Krypto-Lending-Marktplatz Ajna im Blockchain-Bereich.

Dinge, die es beim Nearshoring zu beachten gibt

Technische und organisatorische Vorkehrungen, die Sie treffen müssen, wenn Sie sich für Nearshoring entscheiden:

  •  Remote Work muss erlaubt sein.
  • Organisatorische Massnahmen bezüglich Datenschutz, Sicherheit, Projektsteuerung und kultureller Unterschiede treffen.

Wie wird der Datenschutz und die Datensicherheit beim Auslagern von Arbeit gewährleistet?

  • IT-Nearshoring-Partner, die personenbezogene Daten einsehen können, müssen die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) einhalten, die besagt, dass IT-Infrastrukturen, Software, Systeme und Prozesse entsprechende Datenschutz-Standards erfüllen müssen.
  • Nearshoring-Mitarbeiter erhalten keine persönlichen oder sensiblen Daten. Es werden anonymisierte Daten in Testumgebungen verwendet, um Missbrauch zu verhindern. Diese Massnahmen gelten auch für Mitarbeiten im Inland, die remote arbeiten.
  • IT-Systeme werden durch moderne Cybersecurity-Massnahmen geschützt, um Hackerangriffe zu vermeiden oder abzuwehren.

Steuerregelungen für Nearshoring-Mitarbeiter

  • Nearshoring-Mitarbeiter zahlen Steuern in ihrem Wohnsitzland.
  • Je nach Regelung, Vertrag und Land zahlt entweder die Nearshoring-Firma die Steuern derer Angestellten oder die Angestellten machen das in eigener Verantwortung.

Risiken, die es beim Nearshoring zu beachten gilt

  • Datensicherheit: keine sensiblen Daten an Nearshoring-Mitarbeiter weitergeben.
  • Kulturelle Unterschiede: unterschiedliche Kommunikations- und Arbeitsweisen berücksichtigen.
  • Technologische Herausforderungen: technische Infrastruktur und Kommunikationskanäle sicherstellen.
  • Interne Widerstände: Akzeptanz bei internen Teams schaffen, um Konflikte zu vermeiden.
  • Rechtliche Aspekte: Einhaltung lokaler Gesetze und Steuerregelungen beachten.
  •  Krisenmanagement: Risiken wie politische Instabilität berücksichtigen und Projekte auf mehrere Länder verteilen, um das Risiko zu minimieren.

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