16. November 2020
«Eine positive und konstruktive Grundhaltung ist besonders in der Anfangsphase sehr hilfreich»
Guten Tag Herr Schmid. Wo stehen wir aktuell bei der Einführung des EPD in der Schweiz?
Adrian Schmid: Es zeichnet sich momentan ab, dass die Zertifizierungsverfahren bei den Stammgemeinschaften zwischen Herbst 2020 und Frühling 2021 abgeschlossen werden können. Danach werden die EPD-Umsetzungsprojekte gestaffelt eingeführt. Dies sollte aus heutiger Sicht zwischen November 2020 und März 2021 möglich sein.
Das EPD sollte uns als Patienten ja bereits produktiv zur Verfügung stehen. Was sind die Gründe für die Verzögerung?
Die Verzögerung ist eine Folge des gewählten Einführungsszenarios. Umgesetzt wird das EPD von privatrechtlichen Organisationen, die formell zertifiziert werden müssen. Es kam bei diesen Zertifizierungen zu einem grösseren Aufwand als im Vorfeld erwartet wurde. Zertifizierungen können aber erst dann abgeschlossen werden, wenn alle fachlichen Anforderungen erfüllt worden sind. Daran wird aktuell gearbeitet.
Werden nun zusätzliche Massnahmen ergriffen, um die neue Agenda einzuhalten?
Bund und Kantone begleiten die Einführung seit gut einem Jahr unter der Koordination von eHealth Suisse sehr eng. Dafür wurde ein neuer Programmausschuss eingesetzt. Der aktuelle Stand wird seither laufend erfasst und regelmässig beurteilt. Bei Unstimmigkeiten und offenen Fragen kann so rasch Unterstützung geleistet werden. Damit können bei Stammgemeinschaften, Akkreditierungs- und Zertifizierungsstellen allfällige Blockaden aus dem Weg geräumt werden. So sind ein schnelleres Vorwärtskommen und hoffentlich ein baldiger Abschluss möglich.
Was ist denn Ihre Meinung zum Akkreditierung- und Zertifizierungsaufwand?
Auf der Basis der definierten Anforderungen wurde für die Zertifizierungen ein Anforderungsprofil erstellt, das der Bund rechtlich verankert hat. Dieses beschreibt alle Voraussetzungen, die für eine erfolgreiche Zertifizierung erfüllt sein müssen. Den zeitlichen Ablauf des Verfahrens kann man aber kaum beeinflussen, denn fachlich gibt hier keine Abkürzungen.
Während der Coronakrise wäre das elektronische Patientendossier durchaus hilfreich gewesen. Wo sehen Sie konkret den Nutzen des EPD?
Covid-19 ist ein nur ein konkretes Beispiel für den möglichen Nutzen des EPD. Im Kern geht es immer darum, dass die Patientinnen und Patienten die wichtigsten Informationen immer zur Verfügung haben, so auch bei einer Covid-19 Behandlung im Spital. Die behandelnden Ärzte könnten so schneller eine Übersicht des Patienten erhalten, indem auf sie gespeicherte Informationen im EPD zugreifen könnte. So wären mögliche Vorerkrankung, Allergien oder die aktuelle Medikation auslesbar und für die Behandlung nutzbar.
Die Coronakrise hat auch zum Vorschein gebracht, dass die Schweiz bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen im Vergleich zu anderen Ländern nicht dort ist, wo sie sein sollte. Diese Situation sollte uns mehr Anschub und Motivation verleihen, um die Digitalisierung weiter voranzutreiben. Hierzu braucht es Investitionen und weitere Kooperationen. Doch das föderale und liberale Gesundheitswesen in der Schweiz erschwert die digitale Vernetzung erheblich. Wird der Vergleich mit Ländern wie Dänemark gemacht, so greift der Staat dort viel tiefer ein und bestimmt die Umsetzung der Digitalisierung. In der Schweiz müssen wir für die Akzeptanz dieser Veränderung grosse Herausforderungen meistern.
Was sind die nächsten Schritte nach der Einführung des EPD?
Zuerst muss das System so etabliert werden, dass Gesundheitsfachpersonen die Möglichkeit haben, wichtige Informationen im EPD ihrer Patienten abzulegen. Gleichzeitig können die Patienten selber Unterlagen im EPD speichern, zum Beispiel alte Berichte, die aber für zukünftige Behandlungen relevant sind. Dafür müssen der Bund, die Kantone, eHealth Suisse oder die Stammgemeinschaften offensiv informieren und Aufklärungsarbeit leisten, um Vertrauen zu schaffen und eine hohe Akzeptanz zu erreichen. Für die Menschen wird es immer wichtiger, zu wissen, wo und wie ihre Daten abgelegt sind – und wer darauf zugreifen darf. Eine grosse Hürde auf diesem Weg ist die Ausgangslage, dass sich die Bevölkerung aktiv für ein EPD entscheiden muss. Sie muss den Aufwand für die Eröffnung auf sich nehmen und beginnen, bei all ihren behandelnden Ärzten die Nutzung einzufordern. Dafür ist auch ein Kulturwandel notwendig, der aktiv begleitet und unterstützt werden muss.
Wie sehen Sie die Zukunft des EPD? Ist bereits ein EPD 2.0 in Planung?
Das Projekt EPD muss sich nach der Startphase sicher weiterentwickeln. Aus den Erfahrungen der Nachbarländer sieht man deutlich, dass sehr früh neue Anforderungen kommen und Verbesserungen notwendig sind. Ziel ist es, einerseits die Funktionalität zu verbessern und andererseits den strukturierten Datenaustausch zu fördern – zum Beispiel mit einem strukturierten Dokument der aktuellen Medikation.
Wie sollten solche Anforderungen in Zukunft schneller und effizienter umgesetzt werden, damit alle davon profitieren können?
Wir als eHealth Suisse steuern diesen Prozess der fachlichen Weiterentwicklung. Alle Wünsche kommen auf eine Liste und werden insbesondere laufend priorisiert. Eine solche Liste wird seit bald einem Jahr geführt. Aktuell befinden sich weit über 100 Themen darauf. Darunter sind Anliegen zu technischen Vereinfachungen, neuen Funktionalitäten oder zusätzlichen strukturierten Daten. Bei der Release-Planung wird darauf geachtet, dass mehrere Anforderungen gleichzeitig freigeben und umgesetzt werden. Die Release-Planung von eHealth Suisse sieht vor, dass Erneuerungen bei Funktionalitäten im EPD regelmässig umgesetzt werden.
Wie könnte der Verband swissICT – und deren Mitglieder – die Einführung, Umsetzung und Weiterentwicklung des EPD unterstützen?
Eine positive und konstruktive Grundhaltung ist besonders in der Anfangsphase sehr hilfreich. Denn die erste Version des EPD wird noch nicht alle Wünsche erfüllen. Deshalb sind wir um kommunikative Unterstützung sehr dankbar. Diejenigen swissICT Mitglieder, welche im Anbietermarkt unterwegs sind, sollen sich dafür einsetzen, dass Daten, welche in ihren Systemen erfasst werden, auch mehrfach wiederverwendet werden können ohne sie mehrmals erfassen zu müssen.
Anmerkung von Adrian Schmid: Das EPD ist das erste nationale eHealth Projekt, welches die Interoperabilität sicherstellt und internationale Standards unterstützt, speziell für die Vernetzung und den Austausch von Daten. Im Anbietermarkt der medizinischen Primär- und Sekundärsysteme ist bekannt, dass solche Standards noch nicht überall unterstützt werden und deshalb ein grosser Nachholbedarf existiert.
Was möchten Sie den swissICT Mitgliedern im persönlichen Bereich ans Herz legen?
Eröffnen Sie gleich selbst ein EPD und erfassen dort ihre medizinischen Daten. Zudem können sie das EPD im persönlichen Umfeld bekannt machen und so an der kulturellen Veränderung mitwirken.
Wie soll oder wie kann das EPD langfristig finanziert werden?
Diese Frage kann nicht pauschal beantwortet werden. Der Bund beteiligt sich an den Kosten für den Aufbau und die Zertifizierung von Stammgemeinschaften. Dazu hat das Parlament Finanzhilfen von 30 Millionen Franken gesprochen. Die Betriebskosten werden durch die Finanzhilfen des Bundes nicht unterstützt und sind von den Stammgemeinschaften zu tragen.
Grundsätzlich gibt es zwei Konzepte der Finanzierung. Mehrheitlich in den lateinischen Kantonen wird das EPD als wichtiges Instrument gesehen, um die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung weiter zu verbessern. Aus diesem Grund haben die Kantone Beiträge für den Betrieb gesprochen. Die meisten deutschsprachigen Kantone verstehen das EPD dagegen nicht als Service-Public und haben sich bisher vor nur am Aufbau finanziell beteiligt. In ihrem Verständnis muss sich das EPD selbst finanzieren, zum Beispiel über Beiträge der angeschlossenen Gesundheitsinstitutionen oder mit kostenpflichtigen Zusatzdiensten.
Wie könnte die Eröffnung des Dossiers der Bevölkerung schmackhaft gemacht werden?
Die Eröffnung muss schnell und schlank möglich werden. Einige Stammgemeinschaften planen bisher noch sehr wenige sogenannte «Eröffnungsstellen». Andere planen eine Vielzahl solcher Stellen. Wünschbar ist, dass die Patienten in Zukunft selbst online ihr EPD eröffnen können. Oder bei einer Eröffnungsstelle in ihrer Nähe, wo der Prozess effizient durchlaufen werden kann. Ansonsten werden sich viele Leute aufgrund des hohen Aufwandes nicht registrieren wollen. Für die Förderung der Akzeptanz erhoffen wir uns zudem eine Unterstützung der Patientenorganisationen und Gesundheitsligen wie einer Krebsliga oder Lungenliga, die in vielen Fällen einen sehr engen Kontakt haben zu spezifischen Patientengruppen. Hier wäre eine aktive Empfehlung zur Eröffnung eines EPD hilfreich. Bund und Kantone planen zudem eine nationale Informationskampagne, damit die Bevölkerung und die Gesundheitsfachpersonen Nutzen und die Möglichkeiten des EPD besser wahrnehmen.
Warum haben die Versicherungen keinen Zugang zum EPD?
Einen Zugang haben nur Gesundheitsfachpersonen mit direktem Behandlungskontext zu den Patienten. Somit haben die Versicherungen keinen Zugriff. Bei Diskussionen darüber wird schnell klar, dass viele Menschen kein EPD eröffnen würden, wenn die Versicherer Zugriff auf die Daten hätten. Unabhängig davon ist es aber sicher wünschenswert, dass die Versicherer ihren Kundinnen und Kunden empfehlen, ein EPD zu eröffnen. Denn eine bessere Behandlung sollte auch im Interesse der Krankenkassen sein. Grundsätzlich ist es sogar möglich, dass sich Versicherer finanziell an Stammgemeinschaften beteiligen.
Anmerkung von Adrian Schmid: Anders als in der Schweiz, gibt es beispielsweise in Österreich eine gemeinsame solidarische Finanzierung von Staat und Versicherungen, wobei die Versicherungen dort auch keinen Zugriff auf die Daten haben. Dies, obwohl sie teilweise sogar Betreiber der entsprechenden Infrastrukturen sind.
Herr Schmid, vielen Dank für das Interview.
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