10. November 2020

Was es wirklich bedeutet, User Experience im Unternehmen zu verankern

Der Einbezug von Nutzerinnen ist nur der Start, es braucht eine unternehmensweite Diskussion.

Von Daniel Boos und Peter Horvath

«Wir müssen die User Experience unserer Produkte verbessern», fordert der neue CEO von der IT. Als erste Massnahme starten viele Unternehmen mit der Anstellung einer ersten User-Experience-Architektin. Die Anstellung einer einzelnen Person ist aber häufig der einfachste Teil. Die Herausforderungen beginnen dann, wenn es darum geht, die Perspektive des Nutzenden verbindlich in die Abläufe des Unternehmens zu integrieren.

Wir haben uns mit einem Dutzend Verantwortlichen für User Experience (UX) aus Schweizer Unternehmen ausgetauscht. Die Verantwortlichen treffen sich mehrmals im Jahr in einem Design Leadership Therapy genannten Format. Wir haben daraus zentrale Erkenntnisse zu ihren alltäglichen Erfahrungen und Erlebnissen zusammengestellt.

Radikale Nutzerinnenorientierung führt zu Reibung

Die Art der Fragen von UX-Architektinnen kann zu lebhaften internen Diskussionen führen.

  • Wer sind die Benutzerinnen?
  • Welches Bedürfnis wird adressiert?
  • Haben wir es mit echten Nutzerinnen geprüft?

Gestalten hat viel mit Reibung zu tun. Reibung ist wichtig, damit echter Wert entsteht. Ohne Reibung gibt es kein Feuer. UX-Architektinnen beziehen echte Nutzerinnen in echten Situationen ein und bringen damit neue, unerwartete, häufig unbequeme, aber immer reale externe Gesichtspunkte in die Produktentwicklung ein. Damit das gelingt, benötigt es erstens eine offene Diskussionskultur und zweitens die Erkenntnis, dass Annahmen zu Nutzerinnen überprüft werden müssen, andernfalls handelt es sich nur um naive Stereotypen von Nutzerinnen. Es geht nicht um die Überbringerinnen der Nachricht, sondern um die Nachricht. Gerade am Anfang ist die Unterstützung vom Management für UX wichtig.

User-Experience-Architektinnen als Verbinderinnen

Damit Kunden ein einfaches und konsistentes Erlebnis haben, müssen UX-Architektinnen Mitarbeitende aus unterschiedlichen Teilen der Organisation zusammenbringen. UX-Architektinnen tragen häufig zu unterschiedlichen Produkten bei, sei dies mit Kundenwissen, bei der Ideenfindung, dem Prototyping, dem Interaction Design oder beim Usability Review. Sie haben so einen guten Überblick über verschiedene, teilweise doppelspurige Aktivitäten. Vorgehensweisen wie Customer Journeys oder das Testen von Prototypen machen deutlich, wie wichtig es ist, unternehmensübergreifend zusammenzuarbeiten.

Gute UX-Architektinnen teilen ihr Wissen unternehmensweit, spüren sehr früh schlecht abgestimmte Anreize und können so gerade dem ­Management einen Silo-übergreifenden Blick auf Produkte liefern. Sie sind jedoch nicht gerne Spielball von Machtspielen und sind häufig gefordert, sehr unterschiedliche Interessen auszugleichen. Beispielsweise zwischen Kundenbedürfnis, technischer Machbarkeit und Umsatz.

Gemeinsames Gestalten ist wichtiger als einzelne Gestalterinnen

Nutzerorientierung muss vom ganzen Team und Unternehmen getragen werden. In welche Produkte und Services investiert wird, ist eine Management-Entscheidung. Wie das Produkt ausgestaltet wird, entscheidet das Produktmanagement bei der Entwicklung. Sowohl für das «was» als auch das «wie» kann auf die Kompetenzen der UX-Architektinnen zurückgegriffen werden.

Beispielsweise bei Ersterem mit User Research und Prototyping. Bei Letzterem mit Interaction Design und Usability Testing. UX-Ansätze können nicht nur helfen, das Produkt und den Service zu gestalten, sondern auch die Zusammenarbeit zwischen dem Management und der Produktentwicklung unterstützen.

Aktive Weiterentwicklung und Anpassung an die Organisation

Agile Vorgehensweisen haben die Produktentwicklung in den letzten Jahren verändert. Das bot sowohl Chancen als auch Risiken für die UX Architektinnen in den Unternehmen. Agile Frameworks wie beispielsweise SAFe bieten nur teilweise Antworten zur Verankerung von UX im Unternehmen. Dementsprechend hat UX bei einzelnen Unternehmen als Folge von Reorganisationen an Schlagkraft verloren. Andere Unternehmen wiederum haben Veränderungen explizit genutzt, um die Nutzerorientierung im gesamten Unternehmen zu verankern.

Eine perfekte Lösung gibt es nicht. Dranbleiben ist die Devise, und zwar von Beginn weg mit der ersten UX-Architektin über das zentrale Team bis zur Kombination von dezentraler Verankerung in der Produktentwicklung und einem Serviceteam. Viele der Unternehmen haben deshalb kontinuierlich Veränderungen vorgenommen, um die Organisation von UX an ihre spezifischen Anforderungen anzupassen.

Drei Schritte zur UX Verankerung

Abschliessen möchten wir mit drei Handlungsempfehlungen für IT-Verantwortliche, um noch mehr aus dem Thema UX herauszuholen und wodurch UX-Architektinnen auch ihre bestehende Komfortzone verlassen müssen. Erstens sollen UX-Architektinnen Vorgehensweisen mitentwickeln, mit denen die Nutzerorientierung tief im Alltagshandeln des gesamten Unternehmens verankert wird. Es reicht nicht, UX nur in der agilen Produktentwicklung und der eigenen Disziplin voranzutreiben. UX-Aktivitäten müssen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort integriert werden.

Zweitens müssen die UX-Verantwortlichen aktiv aufgefordert und unterstützt werden, ihre Vorgehensweisen besser zu operationalisieren und zu standardisieren, beispielsweise mit einem Design System oder der Integration von UX-Methoden in bestehende Prozesse des Unternehmens.

Drittens sollen UX-Architektinnen unternehmensübergreifende Verbindungen nicht nur als Nebeneffekt ihrer Arbeit sichtbar machen, sondern entlang des ganzen Entwicklungsprozesses sowohl Management als auch Produktentwicklung unterstützen.

Transversales Arbeiten sollte als zentraler Teil ihrer Arbeit eingefordert werden. Insbesondere weil es in Zukunft immer mehr darum geht, gemeinsam eine gesamtheitliche UX über das ganze Produkte- oder Serviceportfolio zu gestalten und sich dadurch im Markt zu differenzieren.

Mithilfe von UX kann nämlich die IT dem gesamten Unternehmen noch mehr Wert bringen.

 

Bild: Claudio Schwarz, claudioschwarz.com

Über die Autoren

Daniel Boos (Dr. sc ETH) leitet das User ExperIence Team der SBB. Er ist Mitglied der Fachgruppe User Experience und Mitorganisator des im Artikel genannten Austauschformates Design Leadership Therapy.

Peter Horvath (EMBA) ist Berater für Strategie, UX und Service Design. Er leitet das Schweizer Kapitel des Service Design Network und unterrichtet Human-Centered Design an der Hochschule Luzern.

Anmerkung: Dieses Interview wurde in der Ausgabe des swissICT Mitglieder-Magazins 03/2020 publiziert.

Mit Ihrem Besuch auf unserer Website stimmen Sie unserer Datenschutzerklärung und der Verwendung von Cookies zu. Dies erlaubt uns unsere Services weiter für Sie zu verbessern. Datenschutzerklärung

OK