18. Juli 2023
Fachkräftemangel – was können KMU tun?
Der Fachkräftemangel ist gekommen, um zu bleiben. Bedeutet das nun, dass immer noch höhere Löhne und noch mehr Benefits geboten werden müssen, um die passenden Fachpersonen ins Unternehmen zu holen bzw. um die bestehenden Mitarbeitenden zu halten? Das ist insbesondere für KMU kein realistischer Weg. Doch was können Sie stattdessen tun?
Am Anlass der Fachgruppe Talent Acquisition haben Christian Cascetta, Jasmine Schläfli und Raphael Ineichen Denkanstösse und konkrete Tipps gegeben, wie diese Herausforderung insbesondere in kleineren Unternehmen, die über keine eigenen Fachpersonen in diesem Bereich verfügen, angegangen werden kann.
Wir haben keinen Fachkräftemangel, wir haben einen Arbeitskräftemangel!
Wenn man aktuell z.B. auf jobs.ch nach einer Stelle «System Engineer»oder «Software Engineer» sucht, findet man schweizweit um die tausend (!) offene Stellen. Bis 2030 werden 39’000 fehlende IT-Fachkräfte erwartet (gemäss Schätzung durch ICT-Berufsbildung Schweiz) und werden ca. 15% der freien Stellen nicht besetzt werden können. Diese Ausgangslage präsentierte Christian Cascetta und ruft zu einem Paradigmenwechsel in der Rekrutierung auf.
Unternehmen bewerben sich bei den Kandidaten und nicht mehr umgekehrt
Die Zeit, in der man fünf qualifizierte Bewerber:innen prüfen und dann seine Auswahl treffen konnte, ist schon seit einigen Jahren vorbei. Qualifizierte Mitarbeitende ihrerseits erhalten jedoch jede Woche mehrere Anfragen mit Job-Angeboten – das betrifft übrigens auch die Mitarbeitenden in Ihrem Unternehmen! Trotzdem suchen Unternehmen nach wie vor die eierlegende Wollmilchsau (mit Sattel). Es ist weiterhin Realität in der Rekrutierung, dass Bewerbungen nicht mit der notwendigen Priorisierung verfolgt werden und so der Bewerbungsprozess viel zu lange dauert. Stelleninserate und auch Vorstellungsgespräche haben sich den aktuellen Gegebenheiten nicht angepasst und auch Teilzeitstellen sind eine Ausnahme und wenn, dann nur auf Basis eines 80%-Pensums.
Die Rekrutierung muss ein Top-Management-Thema werden und die Rekrutierung fängt beim Halten der bestehenden Mitarbeitenden an. Denn die beste Vakanz ist die, die man nicht besetzen muss. Bleiben Sie aufmerksam bei den Salären Ihrer Mitarbeitenden und schliessen Sie Anpassungen, wo nötig und sinnvoll, nicht per Definition aus, sonst kommt Ihnen der Markt zuvor. Doch vor allem geht es darum, die Mitarbeitenden und auch Bewerbenden emotional an das Unternehmen zu binden und nach dem Grundsatz «hire attitude and train skills» zu handeln.
Bei den passenden Menschen als attraktive Arbeitgeberin wahrgenommen werden
Jasmine Schläfli führte aus, dass Arbeitgeberattraktivität ein sehr subjektives Thema ist. Legen Sie den Fokus deswegen darauf, bei den zum Unternehmen passenden Menschen als attraktive Arbeitgeberin wahrgenommen zu werden. Passende Menschen sind die, die sich mit dem Unternehmen identifizieren können und die Werte teilen. Authentisch und durchgängig die eigene Identität zu leben, ist eine Chance, sich insbesondere als kleines Unternehmen abheben zu können. Wenn die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsplatzkultur diese Identität widerspiegeln, dann sind Sie für die passenden Menschen eine nachhaltig attraktive Arbeitgeberin.
Die eigene Identität bestimmen
Schaffen Sie Klarheit: Was sind unsere Werte? Wofür steht unser Unternehmen? Es lohnt sich, bei diesem Schritt auch die bestehenden Mitarbeitenden einzubeziehen und herauszufinden, welche Werte im Team wahrgenommen werden, ob es Diskrepanzen gibt und vor allem auch, ob die Mitarbeitenden befähigt sind, nach den definierten Werten zu handeln.
Fokus auf Menschen, die Werte & Vision teilen
Nehmen Sie der eierlegenden Wollmilchsau den Sattel ab! Definieren Sie, welche fachlichen Fähigkeiten Sie wirklich brauchen und was davon noch gelernt werden könnte. Fokussieren Sie sich stattdessen auf Menschen, die Eigenschaften und Fähigkeiten mitbringen, die zu ihren Werten passen und das Team ideal ergänzen könnten. Vergrössern Sie den Pool an möglichen Fachkräften, indem Sie fachliche Fähigkeiten selbst schulen oder extern schulen lassen. Sprechen Sie z.B. auch mit Berufs- und Quereinsteigenden, geflüchteten Menschen und älteren Arbeitnehmenden (auch nach dem Pensionsalter). Prüfen Sie, ob Sie Praktika oder Lehrstellen, Teilzeitstellen oder Job-Sharingstellen anbieten können. Das sind alles Möglichkeiten, um die passenden Menschen ins Unternehmen zu holen und eine grosse Chance, um mittelfristig bestens ausgebildete und loyale Mitarbeitende, die Ihre Werte teilen, im Team zu haben.
Arbeitsbedingungen schaffen, die Ihre Identität widerspiegeln
Prüfen Sie Ihre aktuellen Arbeitsbedingungen kritisch, sowohl die schriftlich festgehaltenen, als auch die ungeschriebenen, aber trotzdem gelebten. Passen diese zu Ihren Werten? Wo gibt es Spielraum, um Neues auszuprobieren und «was schon immer so gemacht wurde» zu verändern? Seien Sie mutig und offen auch für neue Formen der Zusammenarbeit, nutzen Sie Ihre Flexibilität und probieren Sie aus. Involvieren Sie auch hier Ihre Zielgruppe, die Mitarbeitenden. Was sind Ihre Bedürfnisse, haben Sie Ideen? Schaffen Sie Transparenz und finden Sie gemeinsam mit Ihren Mitarbeitenden Lösungen, die zu Ihren finanziellen Möglichkeiten passen.
Sichtbarkeit als Arbeitgeberin erhöhen
Um eine offene Stelle besetzen zu können, müssen Sie als Unternehmen bei Ihrer Zielgruppe als potenzielle Arbeitgeberin überhaupt erst wahrgenommen werden. Sich darum erst zu kümmern, wenn die Stelle eigentlich schon besetzt sein sollte, funktioniert im Normalfall nicht. Es geht darum, die Sichtbarkeit als Arbeitgeberin als ständige Aktivität in Ihrem operativen Alltag einzubauen, genau so wie das Kundenmarketing.
Auch als kleines Unternehmen gibt es viele Möglichkeiten, aktives Arbeitgebermarketing zu betreiben. Finden Sie heraus, auf welchen Kanälen Ihre Zielgruppe unterwegs ist. Das wissen Ihre bestehenden Mitarbeitenden am Besten. Gibt es Chats, Foren, Meetups u.ä. wo sich Ihre Zielgruppe trifft und austauscht? Können Sie dort präsent sein, indem Sie z.B. Ihr Büro für die Durchführung zur Verfügung stellen, den Apéro sponsern oder sogar selbst was durchführen? Sind Sie beim Nachwuchs präsent, vom Zukunftstag über Vorträgen an Berufsschulen bis hin zur regelmässigen Teilnahme an Hochschul-Stellenbörsen? Es gibt viele Möglichkeiten und häufig lassen sich diese auch direkt mit dem Kundenmarketing verbinden. Vielleicht haben Sie z.B eine lernende Person im Team, die Spass daran hätte, einen Social-Media-Kanal zu betreuen? Nutzen Sie die Kreativität, die Fähigkeiten und auch die Interessen in Ihrem Team.
Arbeitgeberattraktivität durchgängig leben
Sich als Arbeitgeberin bei potenziellen neuen Mitarbeitenden bekannt zu machen, ist wichtig. Genauso wichtig ist jedoch die Pflege Ihrer bestehenden Mitarbeitenden: Ihren Stammkunden. Arbeitgeberattraktivität zeigt sich im ganzen Prozess: von der Vertragsunterzeichnung bis nach dem Austritt.
Nutzen Sie z.B. die Zeit von der Vertragsunterzeichnung bis zum tatsächlichen Eintritt. Bleiben Sie in Kontakt, laden Sie z.B die Person zu einem Kaffee oder einem Feierabendbier mit dem Team ein. Stellen Sie sicher, dass bei Stellenantritt alles bereit ist, es eine begleitete Einführung gibt, die neue Person sich willkommen fühlt und während der Probezeit eng begleitet wird. Bleiben Sie an Ihren Arbeitsbedingungen dran, arbeiten Sie aktiv und immer wieder daran, die passenden Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Ihre Identität sich in der Arbeitsplatzkultur widerspiegelt. Schaffen Sie Vertrauen, indem Sie das transparent und unter Einbezug Ihrer Mitarbeitenden tun. Hören Sie hin und fragen Sie aktiv immer wieder nach. Und wenn es doch hin und wieder zu einem Austritt kommt, nutzen Sie diesen, um ein letztes Ausrufezeichen als wertschätzende Arbeitgeberin zu setzen. Machen Sie Ihre bestehenden und auch die ehemaligen Mitarbeitenden zu Ambassadoren Ihres Unternehmens!
Eine offene Stelle besetzen
Raphael Ineichen zeigte auf, dass der erste Schritt immer ein Schritt zurück sein sollte. Sie wollen eine offene Stelle besetzen, dann fragen Sie sich zuerst: Weshalb sollte jemand bei uns arbeiten? Was können wir bieten, was andere nicht können? Daraus lässt sich ableiten, wer zum Unternehmen passt und wer nicht, sowie die Anforderungen an die Person. Denn: Es gibt keinen Ferrari zum Preis eines Fiat. Dabei geht es nicht nur um das Gehalt, aber auch – da sollte man realistisch bleiben.
Realistisches Bild transportieren und vorleben
Sind wir ehrlich, die meisten Unternehmen haben nicht das Problem, zu wenige Kunden zu haben, sondern zu wenig Mitarbeitende. Doch die meisten Websites spiegeln das nicht wider. Kommunizieren Sie authentisch und realistisch, was Ihr Unternehmen ausmacht und präsentieren Sie sich entsprechend auf Ihrer Karriereseite. Es ist z.B. nicht authentisch, wenn Sie Ihre flache Hierarchie und kurze Entscheidungswege bewerben, aber gleichzeitig der Bewerbungsprozess Ewigkeiten dauert.
Unterscheiden zwischen Stellenbeschreibung und Stellenausschreibung
Um eine offene Stelle zu besetzen, brauchen Sie sowohl eine Stellenbeschreibung als auch eine Stellenausschreibung. Doch da gibt es einige wichtige Unterschiede, wofür diese dann eingesetzt werden:
Die Stellenbeschreibung ist ein internes, juristisches Dokument und klärt Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Befugnisse dieser Stelle. Das ist Ihr Werkzeug, um auch die Anforderungen festzulegen. Dabei ist Folgendes wichtig:
- Was für Mitarbeitende will ich dafür gewinnen und warum?
- Was muss diese Person WIRKLICH mitbringen?
- Realistische Anforderungen setzen
Die Stellenausschreibung ist ein Marketing-Dokument, das bei potenziellen Kandidaten das Interesse weckt, sich überhaupt mit dem Job beziehungsweise mit der Arbeitgeberin auseinanderzusetzen. Dabei ist Folgendes zu beachten:
- Professioneller Content, der die Zielgruppe abholt
- Der Job ist wichtig, doch die Arbeitgeberin noch fast wichtiger
- Ansprechende visuelle Umsetzung
- Die technische Umsetzung (z.B. ein minimales Formular für die Bewerbung, dass den Datenschutz sicherstellt)
Die Reichweite Ihrer Stellenausschreibung erhöhen
Mit Stelleninseraten auf Jobportalen können Sie die Reichweite Ihrer Stellenausschreibung auf Ihrer eigenen Webseite erhöhen. Doch diese sollten nur als Verstärker des «Originals» angesehen werden und Interessenten möglichst rasch auf Ihre eigene Stellenausschreibung, die Job-Landing-Page auf Ihrer eigenen Webseite, lotsen. Ausserdem ist Folgendes wichtig:
- Messen, woher die Bewerbungen kommen (Quantität und Qualität)
- Jobs im persönlichen Netzwerk teilen
- Je nach Position auch Social-Media-Kanäle wie Facebook und Instagram in Betracht ziehen
Und jetzt bewirbt sich niemand oder die Falschen?
Wenn Sie keine oder die falschen Bewerbungen für Ihre offenen Stellen erhalten, dann könnte dies aus einem der folgenden Gründe der Fall sein:
- Sie holen die Zielgruppe nicht richtig ab. In diesem Fall muss der Inhalt oder die Message überarbeitet werden.
- Es gibt keinen Product-Market-Fit (Job-Talent-Fit). Das heisst, der Job resoniert nicht mit dem gewünschten Profil. Überprüfen Sie, sind Ihre Anforderungen zu hoch?
- Die Zielgruppe sucht keinen Job. Dann müssen Sie die Zielgruppe aktiv ansprechen und für sich und den Job begeistern. Dies ist die Königsdisziplin in der Rekrutierung, weshalb Sie dafür Spezialisten beauftragen sollten.