27. Januar 2022
Nur ein weiteres Buzzword oder das politische «Next global hot Thing»?
Friedrich Wahlen war von 1958 bis 1965 Bundesrat. Berühmtheit hat er allerdings bereits viel früher erlangt. 1930 hat er die Grundlage für den «Plan Wahlen» gelegt, der das Ziel der landwirtschaftlichen Selbstversorgung der Schweiz hatte. Während des Zweiten Weltkriegs wurde dieser Plan dann in die Tat umgesetzt.
In städtischen Parks und Grünflächen wurden Kartoffeln gepflanzt, Gras- und damit Viehwirtschaft wurde zugunsten von Ackerbau reduziert. Diese Anbauschlacht erlaubte es, den Selbstversorgungsgrad der Schweiz massiv zu erhöhen, die Abhängigkeit von den Kriegsmächten zu vermindern und grössere Not und Lebensmittelknappheit in der Schweiz zu verhindern. Die Schweiz konnte so ihre Souveränität bewahren.
Diese Souveränität der Schweiz ist auch in der heutigen politischen Debatte ein omnipräsentes Thema. Insbesondere rechtsbürgerliche, im Rahmen der Diskussionen um das Rahmenabkommen zunehmend auch linke Kreise möchten die Unabhängigkeit der Schweiz scheinbar um jeden Preis verteidigen. Ich sage «scheinbar» weil sich die praktische Realität heute anders darstellt und ich mich frage, ob wir unsere Schlachten an den richtigen Fronten austragen.
Heute, in der wirtschaftlich global vernetzten Welt, wird es für ein kleines Land wie die Schweiz immer schwieriger, eine echte Unabhängigkeit zu bewahren. Um unsere Unabhängigkeit zu wahren, gehört längst viel mehr dazu, als die Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen. Um den steigenden Wohlstand und die Lebensqualität zu erhalten, haben wir uns von der globalen Wirtschaft, politischen Freunden und auch Gegnern abhängig gemacht. Die Fähigkeit, unsere Grenzen im Ernstfall selbst zu verteidigen, war schon im. Ersten und vor allem im Zweiten Weltkrieg umstritten. Heute sind wir sicherlich nicht mehr dazu in der Lage. Rohstoffe wie Öl und Gas müssen wir seit jeher importieren.
Souveränität oder gar Autarkie, schon gar nicht auf den engen geografischen Raum der Schweiz beschränkt (hier schwingt mal wieder der Europäer in mir mit), sind weder sinnvoll noch erstrebenswert. Trotzdem brauchen wir als Schweizer und vor allen Dingen als Europäer Souveränität. Politisch, militärisch und wirtschaftlich. Haupttreiber der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung im 20. Jahrhundert waren wirtschaftlicher und technologischer Fortschritt.
Dieser Grundsatz gilt auch heute noch. Technologischer Fortschritt hat aber in den letzten zwanzig Jahren eine exponentiell wachsende Bedeutung bekommen. In der digitalen Wirtschaft findet eine extreme Konzentration von Wissen, ökonomischer Kraft und damit Macht statt. In der globalen, digitalen Wirtschaft gibt es kaum mehr einen Bereich, in dem das «Winner takes it all»-Prinzip nicht dominiert.
Unsere Abhängigkeit von asiatischen Chip- und Endgeräteproduzenten, von amerikanischen Plattformanbietern und die Angriffe von professionell organisierten Cyberkriminellen bedrohen die Souveränität der Schweiz und Europas. Um unsere Unabhängigkeit im 21. Jahrhundert zu erhalten, müssen wir deshalb digitale Kompetenzen und Geschäftsmodelle zurück nach Europa holen und die Kontrolle über kritische Infrastrukturen sicherstellen. Das heisst nicht, dass wir alles selbst und in der Schweiz oder Europa machen müssen.
Wir müssen aber eine klare Strategie entwickeln, wie wir die nationale Sicherheit garantieren, systemrelevante Infrastruktur schützen und die Handlungsfähigkeit unserer Wirtschaft erhalten können. In dieser Strategie müssen wir unpopuläre Prioritäten setzen, kurzfristig unrentable Investitionen tätigen und europäische Interessen über globale und Freihandelsinteressen stellen. All dies müssen wir tun, um unsere «digitale Souveränität» zu wahren.
Unabhängig davon, ob der Begriff zum Buzzword wird oder nicht, bin ich überzeugt, dass die Schweiz und Europa hier ihre Anbauschlacht des 21. Jahrhunderts führen müssen. Und ich hoffe, dass dabei nicht nur Kartoffeln auf dem Teller landen.
Thomas Flatt ist Präsident von swissICT, Unternehmer, Berater und Verwaltungsrat
(Diese Kolumne «Seitenblick» erscheint ebenso im swissICT Mitgliedermagazin vom Januar 2022 und muss nicht die Meinung von swissICT wiedergeben.)